Coronavirus:Studie in Heinsberg vermutet hohe Dunkelziffer an Infizierten

Coronavirus: Studentische Hilfskräfte halfen bei der Probennahme in Gangelt mit.

Studentische Hilfskräfte halfen bei der Probennahme in Gangelt mit.

(Foto: Oliver Thanscheidt)

Ergebnisse aus dem Corona-Hotspot zeigen zudem, dass die Ansteckungsgefahr nicht von Alter oder Geschlecht abhängt. Allerdings sind die Zahlen nicht auf ganz Deutschland übertragbar.

Von Christina Berndt und Kathrin Zinkant

Als Wissenschaftler vom Universitätsklinikum Bonn vor knapp einem Monat ein erstes Zwischenergebnis ihrer Corona-Studie aus dem Kreis Heinsberg vorstellten, sorgte dies in Wissenschaft und Politik für ein heftiges Gewitter. Politiker nutzten die vorläufigen Ergebnisse, um für Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen zu werben; Wissenschaftler monierten, dass die Ergebnisse ohne ein Manuskript mit detaillierten Daten nicht zu interpretieren seien. Nun haben die Autoren der Heinsberg-Studie ihre Publikation geschrieben und sie, wie es in der Wissenschaft derzeit üblich ist, noch vor Drucklegung auf einem Preprint-Server hochgeladen. Ihr wichtigstes Ergebnis: Insgesamt hatten sich Anfang April in dem Ort bereits 15,5 Prozent der Menschen mit dem neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 infiziert - das sind fünfmal mehr Infizierte als von den zuständigen Gesundheitsämtern erfasst wurden.

Der 12 500-Einwohner-Ort Gangelt gilt als einer der Corona-Hotspots in Deutschland. Nach einer Karnevalssitzung am 15. Februar breitete sich das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 rasant in dem Örtchen im nordrheinwestfälischen Kreis Heinsberg aus, nur wenige andere Gegenden dürften hierzulande so intensiv von der Epidemie getroffen worden sein. Deshalb betrachtete es das Team um den Virologen Hendrik Streeck und den Epidemiologen Gunther Hartmann als große Chance, das Infektionsgeschehen in diesem Ort genauer unter die Lupe zu nehmen. Mit Hilfe von Antikörpertests untersuchten die Wissenschaftler in der ersten Aprilwoche und damit gut sechs Wochen nach der Karnevalssitzung das Blut von 919 Personen aus 405 Haushalten darauf, ob ihr Immunsystem Antikörper gegen Sars-CoV-2 gebildet hatte. Auch nahmen sie Rachenabstriche vor und werteten bereits vorliegende Virustests aus, um alle Infizierten zu erfassen.

20 Prozent der Infizierten bekämpften das Virus ohne jegliche Symptome

Wie schnell und wie stark sich eine Infektion trotz ergriffener Maßnahmen in einem Ort ausbreitet, dafür sei Gangelt "ein hervorragendes Modell", sagte der Epidemiologe Hartmann am Montagmorgen während einer Pressekonferenz des Science Media Centers, weil die Menschen anders als die Skitouristen im österreichischen Corona-Brennpunkt Ischgl nach ihrer Ansteckung nicht abreisten, "sondern größtenteils am Ort blieben". Studienleiter Streeck ergänzte: "Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden."

Aus den Daten geht auch hervor, dass rund 20 Prozent der Infizierten das Virus ohne jegliche Symptome erfolgreich bekämpften, wie dies auch schon aus China berichtet worden war. Wer Symptome entwickelte, der litt häufig unter Geruchs- und Geschmackverlust, Halsschmerzen oder einem trockenen Reizhusten. Die Wissenschaftler warfen zudem einen Blick auf die Tödlichkeit des Virus: Anhand der sieben Infizierten, die in Gangelt bis Studienende verstorben waren, rechneten sie die sogenannte Infektionssterblichkeit hoch. Die Gefahr, nach einer Ansteckung zu sterben, lag in Gangelt demnach bei 0,37 Prozent - auch dies steht im Einklang mit Erhebungen und Schätzungen anderer Wissenschaftler aus aller Welt. Die Sterblichkeit entspreche den bisher publizierten Annahmen und Arbeitshypothesen, teilte der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité der SZ auf Anfrage mit. Er zählt international zu den erfahrensten Coronavirusexperten. Daraus ergebe sich gewiss "keine neue wissenschaftliche Basis für sofortige Lockerungen, wie das in der Vorphase zur Gangelt-Studie immer angekündigt wurde."

Als "überraschend niedrig" bezeichneten die Bonner Wissenschaftler dagegen den Anteil der mit einem Infizierten in einem Haushalt lebenden Menschen, die sich das Virus ebenfalls einfangen. So steckte sich in einem Zwei-Personen-Haushalt die zweite Person mit einer Wahrscheinlichkeit von 44 Prozent an, in einem Vier-Personen-Haushalt ging das Virus im Durchschnitt sogar nur auf 18 Prozent der anderen Personen über. Allerdings steht auch dies im Einklang mit bereits publizierten Daten anderer Forscher. Dabei wurden die Hoffnungen, dass sich Kinder seltener ansteckten, abermals enttäuscht: "Die Infektionsraten sind bei Kindern, Erwachsenen und Älteren sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab", sagte Hendrik Streeck. Es gebe auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Christian Drosten bedauerte, dass im Rahmen der Studie nicht mehr Kinder untersucht wurden. Gerade die Rolle von Kindern im Infektionsgeschehen sei bisher noch zu wenig verstanden, "und die Studie hätte da eine unglaublich gute Gelegenheit geboten".

Bereits am 9. April - und damit direkt vor einer wichtigen Sitzung von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten - hatten die Bonner Wissenschaftler erste Zwischenergebnisse ihrer von einer PR-Agentur begleiteten Studie präsentiert. Dadurch hatten sie sich auch aus der Wissenschaft zum Teil harsche Kritik eingefangen. Da das Studiendesign bis dahin nicht im Detail veröffentlicht war, konnten andere Wissenschaftler die Aussagekraft der Ergebnisse nicht beurteilen. So war unklar, ob die Bonner Wissenschaftler den von ihnen verwendeten Antikörpertest der Firma Euroimmun auch in ihrem eigenen Labor validiert hatten. Kritisiert wurde zudem, dass in ihre Auswertung mehrere Personen pro Haushalt einflossen, was aufgrund der höheren Ansteckungsgefahr im Haushalt das Ergebnis verzerre. "Da wird einfach so wenig erklärt, dass man nicht alles versteht", kommentierte der Virologe Drosten, der die nun vorgelegte Arbeit als "solide" bezeichnete.

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"Die Zahl der Infizierten ist für Deutschland nicht repräsentativ"

Kritisiert wurde zudem, dass die Bonner Wissenschaftler in ihrer damaligen Pressekonferenz nicht immer sauber zwischen ihren Befunden für Heinsberg und den sich daraus ergebenden Implikationen für ganz Deutschland trennten. Es herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass sich die Ergebnisse aus Heinsberg aufgrund des drastischen Infektionsgeschehens dort nicht auf Deutschland übertragen lassen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass deutschlandweit bisher nicht mehr als ein bis zwei Prozent der Bevölkerung einen Immunschutz erworben haben. Der Weg zu einer Herdenimmunität, für die vermutlich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immunisiert sein müssen, ist demnach noch weit.

In der Pressekonferenz des Science Media Centers bestätigten Streeck und Hartmann dies einhellig: "Die Zahl der Infizierten ist für Deutschland nicht repräsentativ", sagte Hartmann. Eine Hochrechnung wagten die Wissenschaftler dennoch: Wenn in Gangelt 0,37 Prozent der Infizierten gestorben sind, dann könnte das angesichts der rund 6700 Toten für ganz Deutschland bedeuten, dass hierzulande bereits rund 1,8 Millionen Menschen infiziert gewesen seien, sagten sie - also zehnmal mehr als die Statistik des Robert-Koch-Instituts bisher erfasst hat.

Der Braunschweiger Epidemiologe Gérard Krause betrachtet diese Schlussfolgerung jedoch abermals skeptisch: "Ich bin da eher zurückhaltend", sagte er in derselben Pressekonferenz, mit der Übertragbarkeit der Letalität auf ganz Deutschland "sollte man vorsichtig sein." Die Heinsberg-Studie habe eine beeindruckende Größe - aber sie sei nicht groß genug, um die Letalität des Virus zu berechnen. Wenn auch nur einige Menschen mehr als die sieben erfassten Corona-Infizierten gestorben sind und dies den Behörden entgangen ist, wäre die errechnete Sterblichkeit schon erheblich größer, so Krause: "Man kann zur Letalität nur sagen: Wir wissen es einfach nicht."

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