Produktdesigner:Grantler, Künstler, Visionär

Triennale Milano

Visionär und Provokateur: Enzo Mari.

(Foto: Jouko Lehtola)

Der Italiener Enzo Mari, 88, hat viele schöne, praktische und langlebige Dinge entworfen - lange bevor es das Wort "Nachhaltigkeit" gab. Es ist Zeit , sein Werk neu zu entdecken.

Von Laura Weißmüller

Ein Stuhl wie ein Manifest. Klare geometrische Formen, zusammengehämmert aus simplen Holzbrettern, aufgebaut auf einfachen Prinzipien. Wenn Gott einen Stuhl entworfen hätte, dann sähe der vermutlich so aus. Hat er aber nicht, er hat es Enzo Mari überlassen.

Tatsächlich wirkt der italienische Designer heute, mit seinem schlohweißen Rauschebart, den buschigen Augenbrauen und dem von Falten durchfurchten Gesicht selbst ein wenig wie der Herrgottsvater persönlich. Gerade ist er 88 Jahre alt geworden. Seine Ideen aber und all die Dinge, die ihn seit den Sechzigerjahren umtreiben, sind nicht alt.

Im Gegenteil. "Ich arbeite für die Fabrik, nicht für die Boutique", erklärte Enzo Mari lange bevor die globale Weltwirtschaft ein Wettrennen daraus gemacht hat, wer am billigsten produziert, und die Erde damit an den Rande des Kollapses gebracht hat. Dem Designer ist es immer wichtig gewesen, ein Produkt so zu entwerfen, dass auch der Fabrikarbeiter gut davon leben kann und die Umwelt es verträgt. Jahrzehnte also bevor die Designwelt das Wort Nachhaltigkeit überhaupt kannte, dachte Enzo Mari darüber nach. Denn dem überzeugten Marxisten war klar: "Die Welt wurde nicht für die Reichen entworfen!" Weswegen gutes Design für ihn auch kein Luxusprodukt sein darf, sondern für alle da sein muss.

Werbung und schöner Schein ist nichts für ihn. Mari will stattdessen Wissen vermitteln

Zeit für eine Wiederentdeckung, denn obwohl Enzo Mari an die 2000 Objekte entworfen hat - von praktischem Büromaterial und farbenfrohen Grafiken über formschöne Vasen bis hin zu bezaubernden Kinderspielen -, ist sein Werk der breiten Öffentlichkeit längst nicht so bekannt, wie es das verdient hat.

Das dürfte vor allem an ihm selbst liegen. "Enzo Mari ist der große Rebell des Nachkriegsdesigns", sagt der Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist. Man könnte auch sagen: Er ist der letzte Grantler, den die Designwelt noch hat. Leidenschaftlich wetterte Enzo Mari all die Jahre gegen das System des Stardesigns genauso wie gegen die Idee des Profits. Er hasste Werbung - für ihn ist ein Produkt immer so gut und so funktional, wie es ist, Schein hin oder her. Schließlich hat Enzo Mari nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr er mit der Designwelt auf Kriegsfuß stand: "Warum ich in all den Jahren ein guter Designer geworden bin? Weil ich ein Künstler war!" erklärte der Italiener, der Anfang der Fünfzigerjahre nach Mailand gezogen war, um an der Akademie dort Kunst und Literatur zu studieren. Eine Entscheidung, die er nie bereute: "Ich hatte das Glück, nicht von der Schule geprägt worden zu sein." Kurz: Enzo Mari war mindestens so sehr Provokateur wie Visionär.

Produktdesigner: Nur aus Holzbrettern und Nägeln hat Enzo Mari seine Möbelserie "Autoprogettazione" entworfen. von Gianluca Di Ioia / Triennale Milano

Nur aus Holzbrettern und Nägeln hat Enzo Mari seine Möbelserie "Autoprogettazione" entworfen. von Gianluca Di Ioia / Triennale Milano

(Foto: Gianluca Di Ioia / Triennale Milano)

Selten sieht man das so deutlich wie in der Serie, aus der auch der Holzstuhl stammt. "Autoprogettazione" hat Mari das Projekt genannt, als er 1973 damit anfing, was auf Deutsch so viel wie Selbst-Gestaltung bedeutet. Wenn jemand etwas selber baue, dann verstehe er es besser, erklärte der Designer seinen Wunsch, den Menschen die Regeln des Entwurfsprozesses klarzumachen, und entwarf die Bauanleitung für eine komplette Einrichtung. Stuhl, Tisch, Bett, Regal, Bank - alles, was man zum Leben braucht, setzte er so schnörkellos simpel aus handelsüblichen Holzbrettern und Nägeln zusammen, dass selbst der Laie die Möbel allein mit einem Hammer nachbauen kann.

Die Serie hat längst Kultstatus. In Berlin werden Maris Stühle im Rahmen eines Projekts von jungen Geflüchteten hergestellt, und für die finnische Möbelfirma Artek schuf der Designer eine Neuauflage vor einigen Jahren. Anfang der Siebziger aber war "Autoprogettazione" ein Affront. Mari wurde als Faschist bezeichnet. Für seine Kollegen war Design schließlich dazu da, den Menschen das Leben leichter zu machen. Mari dagegen ließ sie arbeiten. Und das auch noch umsonst. Wer dem Gestalter das Porto zahlte, bekam die Konstruktionsanleitung kostenlos von ihm zugeschickt. In gewisser Weise die analoge Frühform von Open Source also. Tausende aus der ganzen Welt taten das.

Doch nicht alle verstanden damals, was der Designer mit seinem Projekt im Sinn hatte. Aus der Schweiz erreichte ihn die Bitte um seine Bauanleitung, weil die einfachen Möbel so gut zum rustikalen Stil des Alpenchalets passen würden. Dabei ging es dem Designer nie um Stilfragen. "Es gibt nur eine richtige Form, nicht mehrere", entschied er einmal streng und erklärte die Natur zum Formgeber: "Eine Hand ist nicht schön oder hässlich, sie passt."

Genauso wenig wollte Mari mit seinen radikal einfachen Entwürfen die Baumärkte zu neuen Design-Pilgerstätten ausrufen - auch wenn er mit seinen Selbstmach-Möbeln unfreiwillig zum Mitbegründer der Do-it-yourself-Bewegung wurde. Fast zeitgleich als Mari die Konstruktionsanleitungen 1974 unter dem Titel "Autoprogettazione?" als Buch veröffentlichte, brachten die US-Designer James Hennessey und Victor Papanek ihrer DIY-Fibel "Nomadic Furniture" heraus. Ihnen ging es um Selbstermächtigung, um den Ausstieg aus dem kapitalistischen System. Enzo Mari ging es noch um etwas anderes. Er wollte Wissen vermitteln. "Eine elementare Technik", hieß es in seinem Buch, "die jedermann lehren soll, mit einem kritischen Auge auf die aktuelle Produktion zu schauen."

Mehr denn je hat die Designwelt einen solchen kritischen Blick nötig. Schon vor Corona war klar, dass es nicht mehr so weitergehen kann, dass nicht ständig neue Trends die Gier nach neuen Produkten befeuern dürfen, weil die Welt längst nicht mehr weiß, wohin mit dem Wohlstandsmüll. Ganz zu schweigen von den immer knapper werdenden Ressourcen und der Umweltzerstörung, die mit dem Abbau der Rohstoffe einhergeht. Doch erst die Pandemie hat Sand ins heiß gelaufene Getriebe der Designindustrie gestreut. Messen, die Taktgeber der Maschinerie, wurden abgesagt. Designfirmen cancelten ihre Werbeanzeigen in den Hochglanzmagazinen, Möbelhäuser schlossen ihre Pforten. Vor allem aber saßen die Menschen plötzlich in ihren eigenen vier Wänden fest. Bei vielen führte das zu einem Entrümplungseinsatz. Das, was übrig geblieben ist - selbst nachdem die Wertstoffhöfe wieder aufgemacht haben -, dürfte für sie einen neuen Wert besitzen. Griffen doch nicht wenige wieder selbst zum Werkzeug, reparierten, strichen an.

Mindestens hundert Jahre sollten seine Objekte halten. Oder noch besser: tausend Jahre

"Für mich", sagt Hans Ulrich Obrist, "ist Autoprogettazione die Demokratisierung von großartigem Design." Der Schweizer ist Co-Direktor der Serpentine Gallery in London und kuratiert Ausstellungen auf der ganzen Welt. Regelmäßig wird er zu den einflussreichsten Menschen in der Kunstwelt gewählt. Gerade bereitet er eine große Retrospektive über Enzo Mari vor, Obrist dürfte dem Gestalter endgültig einen Ehrenplatz in der Designgeschichte zimmern. Die Ausstellung hätte im April in der Triennale, Mailands renommiertem Designmuseum, eröffnen sollen. Stefano Boeri, ihr Direktor, arbeitete mit an der Schau, die im Anschluss ins Kunstmuseum Krefeld ziehen wird.

Die Pandemie hat die Pläne durchkreuzt - und gleichzeitig die Auseinandersetzung mit Enzo Mari noch dringender gemacht: "Gerade jetzt, zur Zeit der großen Krise, ist ein Designbegriff wichtig, bei dem es nicht um Luxus geht, sondern um das, was wir im Alltag benötigen", sagt Obrist. Genau diese Sicht auf die Gestaltung habe Enzo Mari zur Inspirationsquelle so vieler Künstler und Designer gemacht.

Der britische Minimalist Jasper Morrison etwa schätzt sein Design, das stets auf einfachen Prinzipien und Grundformen aufgebaut ist, genauso wie die Avantgardisten Formafantasma. Das junge Designerduo aus Italien, das in Amsterdam arbeitet, bezeichnet Mari als sein großes Vorbild, weil er bei seinem Entwurf eben nicht nur an den Wunsch des Auftraggebers dachte, sondern weit darüber hinaus. Und weil der Gestalter schon früh darum rang, sein Design möglichst langlebig, im besten Sinne zeitlos zu machen, um die Umwelt zu schonen. "Wenn ich ein Objekt entwerfe, dann soll es mindestens hundert Jahre, am besten tausend Jahre halten", so Mari. Das mag absurd klingen - bis man überlegt, wie lange ein Baum braucht, bis in ihm das Stück Holz herangewachsen ist, aus dem ein Stuhl produziert werden kann.

Enzo Mari war aber nie nur Designer. Er schrieb, kuratierte Ausstellungen und lehrte. "Bei Enzo Mari handelt es sich um ein Gesamtkunstwerk. Alle Dinge gingen bei ihm zusammen", sagt Obrist, der den Gestalter in den Neunzigerjahren über Boeri in Mailand kennengelernt hat. "Ich war total fasziniert von dieser großen Generation an Designern." Neben Enzo Mari lebten damals Ettore Sottsass, Alessandro Mendini, Achille Castiglioni in der Stadt. Unterstützt von visionären Unternehmen wie Danese Milano oder Olivetti schufen sie das "Mailänder Wunder". Die Metropole wurde zur Hauptstadt des Designs. Heute ist nur noch Mari übrig. Das Alter setzt ihm zu, an Obrists Ausstellung konnte er nicht mehr mitarbeiten.

Das Granteln aber hat er nicht verlernt: Als Enzo Mari 2016 verkündete, dass er sein Archiv der Stadt Mailand vermachen werde, knüpfte er das an eine Bedingung. Sein Werk dürfe nach seinem Tod 40 Jahre nicht gezeigt werden. Der Zustand der Designwelt sei nicht reif dafür. Vielleicht liegt der Visionär zumindest da mal falsch.

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