EU-Kommission:Vor dem Recht sind alle gleich

Von der Leyen vor Jahrestag: EU muss krisenfester werden

„Möglicher nächster Schritt“: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen denkt über ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland nach.

(Foto: Etienne Ansotte/dpa)

Warum die Juristen in Brüssel am liebsten ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen des Karlsruher Urteils anstrengen würden.

Von Matthias Kolb

Langsam verschiebt sich der Fokus wieder. Anders als noch vor einer Woche wird jeder Auftritt Ursula von der Leyens nicht mehr dahingehend beobachtet, ob sich erkennen lässt, was sie über ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland denkt. Dass dies nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum EZB-Anleihenkauf ein "möglicher nächster Schritt" sein könnte, hatte sie dem EU-Abgeordneten Sven Giegold am Samstag mitgeteilt - der umtriebige Grüne machte diesen Brief sofort und auf Englisch publik. Eineinhalb Wochen nach dem Paukenschlag aus Karlsruhe ist klar: Geduld ist angebracht.

Neben der enormen Bedeutung des Karlsruher Urteils für die Euro-Zone und das europäische Rechtssystem erhöht die Personenkonstellation die Aufmerksamkeit. Schließlich war von der Leyen 14 Jahre Ministerin unter Bundeskanzlerin Angela Merkel. Mit ihr müsste sie nun den Konflikt suchen. Zuletzt mehrten sich Artikel darüber, dass von der Leyen darum kämpfe, sich in Brüssel zu bewähren und von den Staats- und Regierungschefs zu emanzipieren. Zudem gibt es die Klage, dass die Kommission oft davor zurückschrecke, Vertragsverletzungsverfahren gegen große Mitgliedstaaten einzuleiten. Von der Leyen ist es indes nicht alleine, die den Startschuss für den mehrstufigen Prozess geben müsste: Die Entscheidung trifft das Kollegium aller 27 EU-Kommissare, das sich stets am Mittwochvormittag berät.

"Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst"

Die Analyse des juristischen Dienstes der EU-Kommission sei eindeutig, so ein hochrangiger Beamter: "Die Karlsruher Richter haben das Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts infrage gestellt, nämlich den Vorrang des europäischen Rechts und europäischer Rechtsprechung." Dies leite sich aus dem Fall "Costa gegen Enel" ab, der 1964 entschieden wurde. Darauf gründet sich von der Leyens Ansage: "Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst." Die EU halte die freiwillige Verpflichtung ihrer Mitgliedstaaten zusammen, die gemeinsamen Rechtsakte und Regeln zu respektieren - und dieses gemeinsame Recht lege der EuGH aus. Hier schließt sich eine weitere Kritik der Brüsseler Juristen an: Wenn für die Karlsruher Richter nach dem EuGH-Urteil zu den Anleihekäufen 2018 noch Fragen offen waren, so wären sie verpflichtet gewesen, sich erneut an die Kollegen in Luxemburg zu wenden.

Der EU-Beamte betont aber, dass neben den rechtlichen Folgen auch politische Aspekte zu berücksichtigen seien. So würde mit einem Vertragsverfahren die Unabhängigkeit von Richtern eines Mitgliedslands infrage gestellt - ein Prinzip, das die Kommission stets verteidigt. Zudem, so der Jurist, sei das Karlsruher Urteil endgültig. Durch ein Vertragsverletzungsverfahren sei es nicht rückgängig zu machen.

Ganz ohne Fragen zu Vertragsverletzungsverfahren lief die Pressekonferenz der Kommission am Donnerstag nicht ab. Doch nicht Deutschland stand im Fokus, sondern ein Nachbarland. Gegenüber Österreich will die Brüsseler Behörde Härte zeigen und zieht wegen der Indexierung von Kindergeld vor den EuGH. Seit 2019 erhalten EU-Bürger, die in Österreich arbeiten und deren Kinder im Ausland leben, weniger Geld, da dort die Lebenshaltungskosten niedriger seien. Dies sei schlicht diskriminierend.

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