SZ-Kolumne "Alles Gute":Hallo, Hausgemeinschaft

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(Foto: Steffen Mackert)

Vor Corona waren die Nachbarn so etwas wie ein namenloser Stummfilm. Jetzt teilt man Bananenbrot, Schnaps und kocht abwechselnd für die alte Dame im Rückgebäude.

Von Veronika Wulf

Es war ein Verhältnis, wie es wohl viele Städter kennen: ein "Servus" im Treppenhaus, ein Türaufhalten, ein Platzmachen am Briefkasten. Man sah zwar täglich die Nachbarn von gegenüber in der Küche, man sah, sie wurde schwanger, das erste Kind kam, dann das zweite, dann der Thermomix. Ein stummer Ausschnitt aus einem Familienleben, über den Innenhof hinweg. Doch ihre Namen? Kannte man nicht. Von der Existenz manch anderer Nachbarn wusste man gar nur, weil sie mal ein Päckchen entgegengenommen haben. Das Verhältnis war in etwa so persönlich wie die Bezeichnungen der zwei Wohnhäuser mit derselben Hausnummer in der Münchner Innenstadt: RGB wie Rückgebäude und VGB wie Vordergebäude.

Dann hängt am Briefkasten dieser Zettel: "Liebe Nachbar_Innen, auch wenn noch unklar ist, wie sich die Lage wegen Corona entwickelt, lasst uns zusammenhalten." Wer Hilfe brauche, etwa beim Einkaufen, solle das auf den Zettel schreiben. "Liebe Grüße, die WG aus dem 1. OG." Es schreibt keiner auf den Zettel, dass er Unterstützung benötigt. Dafür schreiben drei, dass sie selbst helfen können oder die Idee gut finden.

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#StayHomeAndPimpIt

Kurz darauf bildet sich - klar - eine Whatsapp-Gruppe. Es geht um den Austausch von Büchern und Brettspielen. Ein Nachbar bietet seinen Kärcher samt Schläuchen und Holzöl an, nachdem er den eigenen Balkon gedampfstrahlt hat. "#StayHomeAndPimpIt", schreibt er dazu - und die Balkone werden kollektiv gepimpt.

Dann sucht doch jemand Hilfe für "die alte Dame aus dem 3. Stock RGB", die nicht mehr in der Küche stehen kann. Sie sei Mitte 90, Raucherin und "krasse Risikogruppe". Ob jemand ab und zu für sie mitkochen könne? "Sie quatscht gern, vergisst gern die 1,50 Meter und liebt Salat." Sieben Minuten später meldet sich der Erste. Über Wochen wechseln sich verschiedene Nachbarn ab. Es gibt Spargel und Hühnerfrikassee, Spätzle und Tafelspitz mit Kartoffelpüree und Meerrettichschaum.

Inzwischen bekommt die alte Dame wieder regelmäßig Besuch von ihrer Tochter, die verletzt war. An den anderen Tagen wechseln sich die Nachbarn ab und holen Essen vom Restaurant aus der Straße. Und die Gruppe lebt weiter: Man druckt jetzt für den anderen Dokumente aus, verleiht HDMI-Kabel, verschenkt Bananenbrot, teilt Schnaps. Es scheint, als habe es erst eine Pandemie gebraucht, damit das entsteht, was in Städten oft so selten ist: eine Hausgemeinschaft.

In dieser Kolumne schreiben SZ-Redakteure über die schönen, tröstlichen oder auch kuriosen kleinen Geschichten in diesen vom Coronavirus geplagten Zeiten. Alle Folgen unter sz.de/allesgute

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