Hochschulen:Klischee und Wahrheit

Welche Studierenden sind häufig verheiratet? Wer wohnt noch bei den Eltern? Wer spielt gerne Computer? Zwischen den Fächern gibt es verblüffende Unterschiede.

Von Bernd Kramer

Das erste Semester hat sich Michelle Lea Schnell anders vorgestellt: volle Vorlesungen und Begegnungen mit Kommilitoninnen und Kommilitonen zwischen Bibliothek und Fachschaftsparty - ein echtes Studentenleben. Doch wegen der Corona-Pandemie ist das Sommersemester auch an der Uni Mainz, wo die 19-Jährige Wirtschaftswissenschaften studiert, eines der leeren Hörsäle. Statt Kneipentour gab es zum Semesterstart einen Videochat. Eine Mitstudentin hat sie dabei immerhin kennengelernt, sie belegen nun gemeinsam die Vorlesungen. Online. Leibhaftig getroffen haben sie sich noch nicht. Wie sind sie also, die typischen Wirtschaftsstudierenden? "Schwer zu sagen", sagt Schnell. Und die Ingenieure? Die Psychologinnen? "An der Uni war ich in diesem Semester ja noch kein einziges Mal." So wie viele der schätzungsweise fast 80 000 Menschen, die in diesen Wochen ihr Studium begonnen haben.

Ein Blick in die Statistik zeigt: Der typische Student ist heute ein anderer als vor einem halben Jahrhundert. Im Jahr 1975 zählte das Statistische Bundesamt in Westdeutschland 836 002 Studenten. Es waren vor allem junge Männer, die man damals in den Hörsälen und Uni-Bibliotheken antraf. Frauen machten nur ein Drittel der Studierenden aus. Heute sind an den Hochschulen fast dreieinhalb mal so viele Menschen eingeschrieben, das Geschlechterverhältnis ist fast ausgeglichen.

Die heutigen Studierenden wählen auch andere Fächer als vor 45 Jahren. Vor allem die Studiengänge in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ziehen heute viel mehr Menschen an. Wichtiger geworden sind auch die Ingenieurwissenschaften. Das Studium ist technischer geworden, auch wirtschaftswissenschaftlicher. Und irgendwie sagt einem ja schon das Bauchgefühl: In einem Hörsaal mit Ingenieuren wird man andere Menschen treffen als in einem mit lauter Medizinstudentinnen, an der philosophischen Fakultät andere als an der sportwissenschaftlichen. Was ist Klischee, was Wirklichkeit?

In der Sozialerhebung befragt das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) alle paar Jahre zehntausende Studierende, zuletzt im Sommer 2016. Deutschlands Durchschnittsstudent ist demnach 24,7 Jahre alt, unverheiratet und verfügt über 918 Euro im Monat. "Aber es gibt deutliche Unterschiede zwischen den Fachbereichen", sagt DZHW-Forscher Markus Lörz. Exklusiv für die Süddeutsche Zeitung haben Lörz und sein Kollege Hendrik Schirmer die Angaben von über 60 000 Befragten nach feinen Unterschieden und großen Gegensätzen ausgewertet.

Welchen Abschluss die Eltern haben

"Der Bildungsstatus der Eltern hat nicht nur einen Einfluss auf die Frage, ob jemand überhaupt studiert", sagt DZHW-Forscher Markus Lörz. "Er spielt auch eine Rolle für die Wahl des Fachs." Wer sich als erstes aus seiner Familie an die Hochschule wagt, will sichergehen, dass sich die Entscheidung hinterher nicht als Fehler herausstellt. Daher meiden Bildungsaufsteiger Fächer, die als brotlos gelten, etwa Kunst. Sie wählen häufig Studiengänge, bei denen die Jobchancen berechenbar wirken. Etwa Ingenieurwissenschaft. Manche Disziplinen sind bis heute Bastionen von Akademikerkindern geblieben - allen voran die Medizin. Fast zwei Drittel der Medizinstudierenden kommen aus einer Familie, in der auch schon die Eltern an der Hochschule waren. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Das Fach wird nur an Universitäten angeboten und nicht wie viele Wirtschafts- und Sozialwissenschaften oder Ingenieurstudiengänge auch an Fachhochschulen. Bildungsaufsteiger erwerben aber häufig nicht das Abitur, sondern die Fachhochschulreife - der Weg in ein Medizinstudium ist ihnen schon formal verwehrt. Dazu kommen die Zulassungsbeschränkungen: Wer Medizin studieren will, braucht einen sehr guten Abi-Schnitt - auch das bevorteilt Akademikerkinder, die in ihrer Schullaufbahn mehr Unterstützung von ihren Eltern erfahren.

Wer am meisten jobbt

Medizinstudierende können vergleichsweise oft auf einen Nebenjob verzichten. Gleichzeitig haben sie besonders viel Geld zur Verfügung, rund 976 Euro im Monat, 58 Euro mehr als der Durchschnittsstudent. Acht Prozent der Medizinerinnen und Mediziner erhalten ein Stipendium, unter allen Studierenden bekommen gerade einmal vier Prozent eine solche Förderung. Zwei Punkte entscheiden, ob Studierende jobben: wie viel finanzielle Unterstützung sie von den Eltern bekommen können und wie sie die Perspektiven nach dem Studium einschätzen. "Humanmediziner haben ein tendenziell einkommensstarkes Elternhaus, aber auch gute Berufsperspektiven. Möglicherweise ist deswegen die Dringlichkeit für sie nicht so groß, schon während des Studiums Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt zu sammeln", sagt Lörz.

Wer am häufigsten im Hörsaal sitzt

Die Kultusminister haben bei der Umstellung auf Bachelor und Master berechnet, wie viel Zeit Studierende mit Vorlesungen, Hausarbeiten und Klausurvorbereitung verbringen sollen: 32 bis 39 Stunden pro Woche. Tatsächlich sind es im Schnitt 32 Stunden in einer Vorlesungswoche. Besonders viel Zeit an der Uni verbringen die Medizinstudierenden - allein 20 Stunden in der Woche in Vorlesungen und Seminaren, weitere 20 Stunden mit dem Selbststudium. Womöglich auch deshalb, weil sie weniger jobben müssen.

Wer ins Ausland geht

Elektrotechnikerinnen, Informatiker und Materialwissenschaftler überqueren die Landesgrenzen selten. Nur elf Prozent der Studierenden in den Ingenieurfächern waren für eine längere Zeit zum Studium im Ausland. Eine Erklärung: Ob jemand ins Ausland geht oder nicht, hängt stark von der sozialen Herkunft ab. Für Bildungsaufsteiger ist das Studium ja häufig schon Wagnis genug, da verzichtet man vielleicht auf ein paar Extravorlesungen in Valencia oder Prag mit unklarer Anrechnungsmöglichkeit.

"Es spielen verschiedene Punkte eine Rolle bei der Frage, ob man ins Ausland geht", sagt Hendrik Schirmer vom DZHW. "Sind Auslandserfahrungen nützlich im Studium? Und wie sind die Arbeitsmarktaussichten? Sind die Perspektiven sowieso gut oder braucht es vielleicht einen Auslandsaufenthalt, um sich von anderen Bewerbern abzuheben?" All diese Fragen beantwortet ein Maschinenbauer, ob Akademikerkind oder nicht, anders als die Französisch-Studentin. Die Geisteswissenschaftler gehen dann von allen auch am häufigsten ins Ausland.

Wer noch bei den Eltern wohnt

"Unsere Daten sprechen dafür, dass eher junge Männer zu den Nesthockern gehören", sagt DZHW-Forscher Hendrik Schirmer. Das ist eine Erklärung dafür, warum es gerade in den technischen Fächern viele Daheimwohner gibt. Die Ingenieurfächer sind außerdem klassische Aufsteigerstudiengänge. "Aufsteiger entscheiden sich meistens für die nächstgelegene Hochschule." Erst einmal bei den Eltern wohnen zu bleiben, ist da sicher die bequemste und einfachste Variante.

Wer schon geheiratet hat

Rund 46 Prozent der Studierenden in Deutschland sind Single. Am häufigsten partnerlos sind die Studierenden in den Ingenieurfächern. Vielleicht weil der Männeranteil einfach zu hoch ist? Der Ökonom Nico Pestel vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn hat mit Daten für die Zeit von 1977 bis 2011 untersucht, ob ein unausgeglichenes Geschlechterverhältnis im Studienfach auf Dauer die Heiratschancen verschlechtert - und zumindest für männlich dominierte Disziplinen kann er Entwarnung geben. Die Absolventen der Männerfächer haben überraschenderweise sogar bessere Chancen, eine Partnerin zu finden als andere Studierende, allerdings häufig außerhalb der Universität. Ihre späteren Gattinen haben selbst oft keinen Hochschulabschluss. Studentinnen dagegen würden einen Partner mit niedrigerem Bildungsabschluss eher nicht akzeptieren. Das schränkt die Auswahl für Frauen eher ein, vor allem wenn sie ein Frauenfach studieren.

Wer besonders sportlich oder belesen ist

Die Entscheidung für ein Studienfach ist auch eine für einen Lebensstil, sie zeigt sich im Auftreten, in der Kleidung, im persönlichen Geschmack, in den Hobbys. Den Tag im Café verbummeln, abends ein Glas Wein in der Bar: Es sind vor allem Kunststudierende, die den DZHW-Daten zufolge so ihre Freizeit verbringen - ganz so eben, wie es das Bild der Bohème verlangt. Angehende Ingenieure und Naturwissenschaftler gehen selten essen und trinken, sie treffen sich auch seltener mit Freunden oder Bekannten und verbringen mehr Zeit mit Computerspielen. Sie sind offenbar die Stubenhocker unter den Studierenden. Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler greifen sehr viel öfter als Kommilitonen aller anderen Fächer zum Buch. Wer am meisten Sport treibt, ist wenig überraschend: Sportstudierenden, mit großem Abstand. Die Wahl des Studienfachs fällt bei ihnen mit der bevorzugten Freizeitaktivität so sehr zusammen wie bei wenigen anderen.

Warum gibt es diese Unterschiede? "Letztlich ist das die Frage nach Henne und Ei", sagt DZHW-Forscher Lörz. "Man wählt das Studium auf der Grundlage persönlicher Interessen und Vorlieben. An der Hochschule trifft man in seinem Fach wiederum Menschen mit einem bestimmten Lebensstil und bestimmten Freizeitaktivitäten, an denen man selbst sich wiederum orientiert."

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