Protest gegen "Hygiene-Demo":Die Angst vor dem Dunkeldeutschland-Image

Protest gegen Corona-Beschränkungen

Am Mittwochabend traf sich Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU, M) mit mehreren hundert Menschen zu einem Spaziergang durch die Innenstadt von Pirna.

(Foto: dpa)

Pirna hat schon viele Krisen hinter sich: Zweimal kam die Flut, dann Corona und jetzt hat es die sächsische Stadt auch noch wegen gewaltsamer Ausschreitungen in die Schlagzeilen geschafft. Über den Versuch eines Neuanfangs.

Von Antonie Rietzschel, Pirna

Wenn Pirnas Bürgermeister Klaus-Peter Hanke wissen will, wie es um die Stimmung in seiner Stadt bestellt ist, muss er an diesem Mittwochabend nur in die Gesichter derer schauen, die sich auf dem Marktplatz versammelt haben. 300 Menschen stehen vor dem Rathaus. Viele tragen Mundschutz, viele nicht. Es gibt Leute mit spitzen Hüten aus Alufolie auf dem Kopf. "Destroy Bill Gates", steht auf einem Schild, "Herz statt Hetze" auf einem anderen. Ältere Damen sind gekommen. Aber auch muskelbepackte Männer mit Glatze.

Die einen sind hier, weil sie schon in den vergangenen Wochen hier gestanden haben, um gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu demonstrieren. Die anderen, weil der parteilose Bürgermeister Hanke sie eingeladen hat. Nicht zum Gegenprotest, sondern zu einem "Treffen", wie es in der Mitteilung der Stadt hieß. Hanke steht auf einer Parkbank. Der Bürgermeister spricht von "Dialog". Von "Anstand" und "Würde". Es sind Wörter, wie sie auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer gerne benutzt. Er steht neben dem Bürgermeister. Hanke sagt: "Wir alle sind Pirna, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind." Es ist ein Appell der Versöhnung.

Protest gegen Corona-Beschränkungen

Während des Spaziergangs versucht Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU, l) mit Gegnern der Corona-Maßnahmen ins Gespräch zu kommen.

(Foto: dpa)

Seit Ende April ist der Pirnaer Marktplatz Treffpunkt für "Hygiene-Demonstrationen". Angemeldet sind diese Versammlungen selten, die Aufrufe verbreiten sich in den Sozialen Netzwerken und beim Messengerdienst Telegram. An guten Tagen kommen hier 300 Menschen. Sie tauchen plötzlich auf, manche tragen Deutschlandflaggen, andere Plakate auf denen die "Corona-Lüge" angeprangert wird. Friedlich bleibt es bei diesen "Spaziergängen", wie sie die Teilnehmer nennen, längst nicht.

Bereits Anfang Mai gab es Attacken gegen die Polizei. Mehrere Beamte wurden verletzt. Vergangene Woche eskalierte die Situation. Videos zeigen wie "Spaziergänger" Polizisten beschimpfen. Einige schubsen Beamte sogar weg. Eine Aufnahme zeigt, wie sich ein Mann vor einem Beamten aufbaut, als wolle er ihn weg boxen. Die Ausschreitungen schaffen es sogar in die Tagesschau. Es sind Nachrichten, die Pirna nicht gebrauchen kann. Schon gar nicht jetzt, wo die Stadt mit den wirtschaftlichen Folgen von Corona besonders hart zu kämpfen hat.

"Wir gelten jetzt als Dunkeldeutschland", sagt Tino Wunderlich. Er ist einer der Inhaber von "Kaffee Schmole", benannt nach Ernst Schmole, der vor 140 Jahren in der Langen Straße einen Kolonialwarenhandel mit Kaffeerösterei eröffnete. Den Laden gibt es noch heute. In den schweren Holzregalen stehen Marmeladen und Schokotafeln. Es gibt Kaffee, frisch abgepackt in blassgelben Verpackungen mit Schnörkelschrift.

Wie viele Pirnaer musste auch Wunderlich schon viele Krisen durchstehen. Bei der Jahrhundertflut 2002 stand das Wasser im Laden bis unter die Decke. 2013 kam die Elbe wieder. Diesmal erwischte es das Weinhaus. Zwar konnten sie vor der Flut selbst den letzten Schokoriegel retten. Doch die Mauern sogen sich mit Wasser voll. Ein Jahr dauerte es bis zur Wiedereröffnung.

Dass der Elbpegel wieder steigt. Darauf sind sie in Pirna mittlerweile vorbereitet, nicht aber auf eine Pandemie. Ende März musste Schmole wieder schließen. Kurz vor Beginn des Ostergeschäfts. Im Lager stapeln sich Schokohasen und Liköreier. 40 Kilo hat er an ein Altenheim gespendet.

Der Laden ist seit Wochen wieder geöffnet. Und seit wenigen Tagen darf Tino Wunderlich auch im Weinhaus wieder Gäste empfangen. Er sitzt zwischen Regalen voller Flaschen. Weine aus Italien, Frankreich - aber auch aus Meißen. Der Pirnaer hat sich selbst ein Gläschen eingeschenkt. Das Geschäft sei wieder gut angelaufen, sagt er. Doch es kämen vor allem Stammkunden. "Was fehlt, sind Touristen."

Pirna gilt als "Tor zur Sächsischen Schweiz". Sobald es wärmer wird, flanieren Besucher aus ganz Deutschland durch die Gassen mit den schön verputzten Mittelalterfassaden. Sie übernachten im "Deutschen Haus" oder im "Pirn'scher Hof". Doch wer soll kommen, wenn mitten in der Altstadt Polizisten angepöbelt und geschubst werden?

Früher, da kamen die Touristen auch wegen dem Stadtfest nach Pirna oder dem Klassikfestival "Sandstein und Musik". Beides ist abgesagt und bei den Hotels melden sich plötzlich Leute, die nicht trotz, sondern wegen der "Hygiene-Demonstrationen" die Stadt besuchen wollen. Richtig knallen müsse es, habe ihr ein Anrufer gesagt, erzählt eine Hotelbesitzerin. Ein anderer wollte unter dem Pseudonym, "Spaziergänger" ein Zimmer reservieren.

Die Händler und Gastronomen haben einen offenen Brief geschrieben, in dem sie an die "Spaziergänger" in der Stadt appellieren. "Es ist richtig und wichtig für seine Rechte auf die Straße zu gehen. Aber unter die friedlichen Demonstranten hat sich eine gewaltbereite Gruppe gemischt", heißt es darin. Dieser solle kein weiterer Nährboden geliefert werden. "Die jüngsten Vorkommnisse schaden massiv dem Image der Stadt, sie schaden dem Tourismus und sie schaden uns (...) noch mehr als der Virus selbst." Unterschrieben haben den Brief mittlerweile 90 Geschäftsleute. Restaurantbetreiber, Hoteliers und Ladenbesitzer (darunter auch die Mutter der Autorin) - aber auch Bürgermeister Klaus-Peter Hanke.

Es ist eine Positionierung, wie es sie in Pirna lange nicht gegeben hat. Doch manchen in der Stadt geht der Brief nicht weit genug, weil er klingt als gebe es hier erst seit der Corona-Krise ein Problem mit Rechtspopulisten und gewaltbereiten Neonazis. Die Sächsische Schweiz war früher NPD-Hochburg und Rückzugsort für Rechtsterroristen. Die NPD betreibt bis heute in Pirna eine Art Clubhaus. Zur Bundestagswahl 2017 holte die AfD hier ein Direktmandat. Pirna gehört auch zum Wahlkreis des AfD-Politikers Jan Zwerg, der kurz vor der Landtagswahl 2019 sagte: "Die Jagdsaison ist eröffnet." Vertreter von NPD, und AfD - aber auch gewaltbereite Neonazis fanden sich zuletzt auch bei den "Hygiene-Demonstrationen" in Pirna wieder.

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Stellt sich die Frage, ob es reicht auf den Image-Schaden hinzuweisen - oder ob nicht eine klare politische Haltung nötig wäre. "Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre der Brief schärfer ausgefallen", sagt Tino Wunderlich. Doch dann hätten womöglich nicht so viele unterschrieben, glaubt er. Unter den Unterzeichnern finden sich auch mindestens zwei Ladenbesitzer, die an den "Hygiene-Demonstrationen" teilgenommen haben sollen. Solche Leute wolle man nicht verprellen, so Wunderlich.

Dass der Brief in der rechtsextremen Szene provoziert, zeigt die Reaktion von Pegida-Chef Lutz Bachmann. Er hat die Namen der Unterzeichnerin den Sozialen Netzwerken und beim Messengerdienst Telegram geteilt. Er schrieb von einer "Liste der Schande" und appellierte an seine Anhänger: "MERKT EUCH DIESE NAMEN. KAUFT NICHT BEI ANTIDEMOKRATEN." Angst macht das Tino Wunderlich keine. Natürlich rechne er damit, dass irgendwann Schmierereien an der Hausfassade auftauchen. "Aber das ist es mir Wert."

Längst nicht alle denken so. Einige Händler trauen sich an diesem Mittwochabend nicht auf den Pirnaer Marktplatz. Trotz der Einladung von Bürgermeister Klaus-Peter Hanke und der Präsenz von 250 Einsatzkräften. Zu groß ist die Angst vor erneuten Ausschreitungen. Doch es bleibt friedlich. Dem Rundgang mit Hanke und Ministerpräsident Michael Kretschmer schließen sich 200 Menschen an. Sie laufen, durch Pirnas sonnendurchflutete Gassen. Manche halten Luftballons in den Händen oder tragen bunte Bänder an der Jacke. Es sind schöne Bilder, die die Szenen vom vergangenen Mittwoch fast vergessen lassen. Wie lange die Wirkung hält, wird sich zeigen.

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