Wirtschaftshilfe:Peking macht die Kasse auf

Lesezeit: 4 min

Die Chinesen sollen nach dem Willen der Führung wieder mehr kaufen: Eine Frau auf einem Pekinger Markt. (Foto: Noel Celis/AFP)

Mit Milliardeninvestitionen will die Volksrepublik die erste Rezession seit Jahrzehnten meistern.

Von Christoph Giesen

Vor der Corona-Krise, da bildete sich schon im Morgengrauen, Stunden bevor Ministerpräsident Li Keqiang seine Eröffnungsrede zum alljährlichen Volkskongress halten würde, eine lange Schlange vor der Großen Halle des Volkes in Peking. Diplomaten und Journalisten reihten sich ein, sie alle wollten Lis Rechenschaftsbericht vorab lesen und jene Zahl erfahren, auf die die ganze Welt schaut: Die Prognose zum chinesischen Wirtschaftswachstum. Sind es acht Prozent? Sieben? Oder nur sechs? Schon eine Nachkommastelle kann Börsenkurse bewegen; schwächelt China, schwächelt die Welt.

In etlichen Sprachen bekam man die Rede ausgeteilt: Auf Chinesisch natürlich, auf Englisch, und wer es unbedingt wollte auch auf Deutsch - die Übersetzung ist allerdings nur für Bürokraten und Liebhaber juristischer Texte zu empfehlen, Substantiv reiht sich an Substantiv. So auch dieses Jahr. Nur in der deutschen Fassung sagt Premier Li so schöne Sätze wie: "Die Covid-19-Epidemie ist ein Gefährdungsfall der öffentlichen Gesundheit, wie ihn die Volksrepublik China hinsichtlich der Geschwindigkeit seiner Verbreitung, der Breite seines Infektionsumfanges und der Schwierigkeit seiner Prävention und Kontrolle in derartiger Höchststufe seit ihrer Gründung noch nie erlebt hat."

Die deutsche Übersetzung ist so steif wie eh und je, ansonsten aber ist alles anders. Die Große Halle des Volkes darf man als ausländischer Journalist nicht mehr betreten, Interviews mit Delegierten sind untersagt. Und die Rede konnte man am Freitag erst im Internet herunterladen, als Li bereits sprach und verkündete, dass die Regierung in diesem Jahr erstmals seit 1990 keine Prognose abgeben werde, "wegen der großen Unsicherheiten" durch die Corona-Krise. Das ist eine noch viel größere Zäsur als das Ende des morgendlichen Rituals. China ist nicht mehr die Wachstumslokomotive der Weltwirtschaft - und niemand weiß, wie lange das so bleibt.

Bereits im ersten Quartal hatte sich das Bruttoinlandsprodukt der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 6,8 Prozent verringert. Der erste negative Wert seit Beginn der quartalsweisen Erhebungen 1992. Ein ganzes Jahr ohne Wachstum hatte es in der Volksrepublik zuletzt 1976 gegeben. Damals war allerdings noch Kulturrevolution und Staatsgründer Mao Zedong gerade erst gestorben.

In den vergangenen Wochen haben Ökonomen in China über Konjunkturpakete, Konsumgutscheine und Rettungsmaßnahmen für den chinesischen Mittelstand diskutiert. Wie beatmet man die chinesische Wirtschaft, ohne dass allzu viel Geld auf Sparkonten landet oder in dunklen Kanälen versickert? Und vor allem: Wofür gibt man Geld aus?

Nach der Finanzkrise von 2008 an steckte die Regierung Milliarden Yuan in die Infrastruktur. Neue Flughäfen wurden gebaut, U-Bahnen und das größte Hochgeschwindigkeitszug-Netz der Welt, vieles in Atem braubendem Tempo. Die Folge: Schulden über Schulden. Als 2008 die Olympischen Spiele in Peking stattfanden, lag die Gesamtverschuldung der Volksrepublik - die Verbindlichkeiten aller Privathaushalte und Unternehmen sowie des Staates - bei etwa 145 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Aktuelle Schätzungen gehen von deutlich mehr als 300 Prozent aus. Da sich die chinesische Wirtschaftskraft in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat, dürfte sich die Last der Kredite mindestens verfünffacht haben. Dennoch kündigte Premier Li in seiner Rede nun an, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie mit Milliardenausgaben und neuen Schulden zu bekämpfen. Vorgesehen ist demnach die zusätzliche Ausgabe von Staatsanleihen im Wert von einer Billion Yuan (etwa 128 Milliarden Euro), zudem soll die Infrastruktur weiter ausgebaut werden. Statt 2,15 Billionen sollen in diesem Jahr 3,75 Billionen Yuan dafür zur Verfügung stehen. Das Rezept gleicht dem aus der Finanzkrise von 2008. Und es geht sogar noch weiter. Um den Konsum der Menschen im Land wieder anzukurbeln, werde man die Steuern senken, versprach Li. Die Mehrwertsteuer soll reduziert werden, genauso wie die Sozialabgaben, die Unternehmen für ihre Mitarbeiter abführen müssen. Chinas Bürger und Unternehmen dürften so insgesamt 500 Milliarden Yuan einsparen.

Trotzdem erwartet die chinesische Regierung ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit. Vor einem Jahr lag das Ziel für die Arbeitslosenquote in den Städten bei 5,5 Prozent, in diesem Jahr sei von sechs Prozent auszugehen, sagte Li. Statt elf Millionen sollen nur noch neun Millionen Jobs geschaffen werden. Das klingt nach viel, ist in China aber dringend notwendig. Die Führung in Peking muss Jahr für Jahr allein für Bauern, aus denen Städter werden, Millionen Jobs schaffen, im Gegensatz zu Europa ist die Urbanisierung in China noch im vollen Gange. Zudem müssen 8,74 Millionen Universitätsabsolventen Arbeitsplätze finden.

"Gegenwärtig und in der näheren Zukunft wird China vor Herausforderungen stehen wie nie zuvor", sagte Li. Das Land verfüge aber über eine "starke wirtschaftliche Grundlage", ein "enormes Marktpotenzial und Hunderte Millionen intelligenter und fleißiger Menschen". Dank der starken Wachstumsimpulse werde China die Herausforderungen bewältigen können.

Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage, sagte Li, wolle China das Handelsabkommen mit den USA einhalten. Die Volksrepublik werde weiterhin Wirtschafts- und Handelskooperationen mit anderen Staaten vorantreiben. Erst Mitte Januar hatten die USA und China nach einer zähen und erbitterten Auseinandersetzung ein vorläufiges Handelsabkommen unterzeichnet. Es sieht vor, dass sich beide Seiten nicht mehr mit zusätzlichen Strafzöllen überziehen. China hat sich zudem verpflichtet, seine Einfuhren aus den USA deutlich zu erhöhen.

Streit mit Washington ist dennoch programmiert. Der Volkskongress soll kommende Woche ein Sicherheitsgesetz für Hongkong verabschieden. An der Börse der ehemaligen britischen Kronkolonie sackten am Freitag daher die Kurse ab. Die Furcht ist groß, dass Investoren und Unternehmen abwandern, wenn Hongkong kein Rechtsstaat mehr ist und die Gesetze in Peking gemacht werden. Für die Wirtschaft und das chinesische Wachstum, jene Zahl, auf welche die Welt so viele Jahre gebannt geschaut hat, ist es ein schlechtes Signal. China braucht Hongkong noch immer als Tor zur Welt.

© SZ vom 23.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: