Studieren in Kunst und Architektur:Leere Werkstätten, volle Chaträume

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Der Unterricht an den Akademien für Kunst und Architektur läuft wieder. Alle erproben die digitale Zukunft, aber die Sehnsucht nach dem Haptischen wächst.

Von Catrin Lorch und Laura Weissmüller

Die schmale Frau in dem hellen Zimmer sagt, sie habe "zum ersten Mal seit langem mehr Zeit, um Kunst zu produzieren". Es gibt keine Vernissagen oder Veranstaltungen in Berlin, das Büro des Magazins Texte zur Kunst, wo Nadja Abt als Redakteurin Geld verdient, ist geschlossen. So kann sie Simon Denny, der sie im Rahmen des Stipendiatenprogramms "Berlin Program for Artists" (BPA) besucht, überraschende Projekte vorführen. Der neuseeländische Künstler ist Professor an der Kunstakademie in Hamburg und hat die Begegnung virtuell organisiert, als Zoom-Konferenz.

Nun ist ein Atelier-Besuch kein Konferenz-Meeting. Künstler offenbaren Werke, die noch im Entstehen sind, reflektieren Unausgegorenes, Unfertiges. Die Beurteilung findet in einem ähnlich tastenden Prozess statt. Weswegen gerade Kunst-Akademien, aber auch Architektur-Fakultäten jetzt, wo in Deutschland das Semester wieder angelaufen ist, vor besonderen Herausforderungen stehen. Anders als in den Geisteswissenschaften geht es gerade um die Auseinandersetzung mit dem Original, die Arbeit in Ateliers und Werkstätten ist wichtiger als die im Hörsaal und Seminarraum.

Nadja Abt ist vor der Kamera trotzdem überraschend souverän - erzählt von einem Buch, an dem sie jetzt zu Schreiben die Zeit finde (die Protagonistin landet auf einem Schiff mit rein weiblicher Besatzung) und rollt plötzlich große Papierbögen auseinander. "Ich habe seit dem Beginn meines Studiums an der Akademie nicht mehr viel gemalt", sagt sie, "aber ich habe es mir seit langem gewünscht". Es sind organische Motive, Orange, dunkles Rosa, Indischgelb. Aber das kann auch die Beleuchtung sein.

"Es geht für die Klasse darum, im Kontakt zu bleiben", sagt Kunstprofessor Simon Denny

Denny wirkt überrascht, die amerikanische Malerin Georgia O'Keeffe fällt ihm ein, er fragt ratlos, wie groß die Blätter wohl sind. Und es ist dieser Moment, in dem so ein virtueller Studiobesuch an seine Grenzen stößt, genauer: an den Rahmen des Konferenzfensters im Zoom-Programm. Denn der Maßstab für ein Gemälde geht verloren, wenn der Bildausschnitt, in dem es präsentiert wird, auf dem Monitor ungefähr so groß ist wie ein Bogen Briefmarken. Erst als die Künstlerin digitale Überarbeitungen der Bilder einblendet, ist ein Gespräch über die Werke möglich.

Simon Denny hat an diesem Tag schon ein halbes Dutzend solcher Begegnungen mit BPA-Stipendiaten hinter sich, die damit beginnen, dass man auf einen Monitor blickt und die Lautsprecher richtig einstellt. Auch als Professor an der Akademie in Hamburg begegnet er seinen Studenten in diesem Frühjahr ausschließlich online. Selbst wenn sich die Restriktionen offiziell noch weiter lockern, möchte er das beibehalten. Er will niemanden voreilig gefährden. Aber wie soll man unterrichten, wenn die Klasse sich nicht zur Diskussion vor den Kunstwerken zusammenfinden darf?

Der Künstler hat seinen Studenten in diesem Jahr die - recht aktuelle - Beschäftigung mit Propaganda als Thema vorgegeben. "Da lesen wir auch viel, beschäftigen uns mit der Historie." Zudem hat Denny eine Website programmiert: "Ich habe versucht, so viele Kanäle wie möglich darauf zu vereinen", erklärt er, "es gibt also einen Videoraum, ein Archiv, eine Bilddatenbank und auch einen Chatroom, der rund um die Uhr gut besucht ist. Es geht für die Klasse darum, im Kontakt zu bleiben. Es ist auch eine Frage der Atmosphäre."

Der Künstler Simon Denny spricht mit der Künstlerin Nadja Abt über ihre Arbeit „Bivalvia“ beim einem virtuellen Studio Visit. (Foto: Berlin Program for Artists)

Seine Kollegin an der Hamburger Akademie, die britische Künstlerin Angela Bulloch, ist ebenfalls skeptisch, was die Lehre über digitale Medien angeht. Und das, obwohl ihr als Künstlerin, die mit Computer, Video, Sound, Skulptur und Medien arbeitet, der Umgang mit solchen Informationsmedien vertraut ist. "Wir alle bevorzugen es, mit den Studenten in einer andauernden Konversation zu stehen. Das ist jetzt schon deswegen komplizierter, weil der Austausch nun lediglich ein sprachlicher sein kann - wobei ich nicht voraussetzen kann, dass alle internationalen Studierenden gleichermaßen gutes Deutsch oder Englisch sprechen."

Was den Kunststudenten ihr Atelier, ist den angehenden Architekten ihre Arbeit in der Werkstatt oder dem Studio, etwa wenn sie an aufwendigen Modellen basteln. Dort stehen ihnen teure Werkzeuge wie Lasercutter und Fräser zur Verfügung, helfen auch schon mal ausgebildete Schreiner und Metallbauer bei der Ausführung. Corona macht das unmöglich. Die Werkstätten, wo normaler Weise nicht nur am Ende eines Semesters die Hölle los ist, sind verwaist.

Trotzdem sind viele Lehrkräfte an deutschen Architekturfakultäten erstaunlich zufrieden damit, wie das Semester angelaufen ist. Vor allem, weil durch den Lockdown endlich das angeschoben worden, was schon lange auf der Agenda stand: die digitale Lehre. Obwohl in der Architektur der Computer beim Entwerfen seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr wegzudenken ist, war der Online-Unterricht an den allermeisten Universitäten immer noch ein Nischenprojekt. Der Großteil setzte auf analoge Präsenz. Coronabedingt erfolgte die Umstellung in Windeseile.

"Wozu es sonst jahrelange Dekanatssitzungen gebraucht hätte, das wurde nun über Nacht erfunden", sagt etwa Hubert Klumpner. Der österreichische Architekt ist Professor für Architektur und Städtebau an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Während die Kollegen an den deutschen Hochschulen zumindest noch einige Wochen Vorbereitungszeit hatten, musste der Unterricht in der Schweiz von einem Tag auf dem anderen umgestellt werden. Das Sommersemester 2020 hatte an der ETH längst begonnen, als Mitte März die Nachricht kam, den Betrieb virtuell fortzusetzen. "Macht irgendwas, damit dieses Semester erfolgreich zu Ende geht" lautete die Losung des Dekanats.

Obwohl auch an der ETH vieles erstaunlich gut geklappt habe, ist Klumpner trotzdem "weniger in Jubelstimmung" als seine deutschen Kollegen, wenn er Bilanz zieht: "Für die Lehrenden mag es vielleicht interessant sein, all diese neuen Werkzeuge auszuprobieren, aus der Perspektive der Studierenden ist es das nicht." Ständig auf den Bildschirm zu starren, sei ermüdend. Genauso wie gerade beim Entwurfsunterricht viele Freiheiten fehlen. Schnell mal wo hinzuzeigen, in der Gruppe angeregt zu diskutieren, nach der Abschlusskritik das gemeinsame Grillfest zu feiern, wo das Gespräch weitergeht - alles nicht möglich. "Die Studierenden vermissen den Kontakt untereinander."

Ein Blick in das „Endless Studio“, das Studierende der Eidgenössichen Technischen Hochschule in Zürich programmiert haben. (Foto: K. Papanicolaou / Studio RijekaFS, ETHZ)

Das Studio, wo an den Entwürfen gearbeitet wird, ist für Klumpner das große Privileg in einem Architekturstudium, das gemeinsame Tüfteln, gerne die Nacht durch. "Da herrscht eine Atmosphäre wie auf einem Open-Air-Festival, die kreativ ist." Weil sie darauf nicht verzichten wollten, schufen die Studierenden an der ETH zumindest virtuell ein "Endless-Studio", wo sie sich rund um die Uhr treffen können, Notizen und Entwürfe auf dem White Board zurücklassen, den Kontakt untereinander nicht verlieren. Langfristig sei das aber kein Ersatz.

"Entwurf ist auf Interaktion angelegt", sagt auch Florian Hertweck, der an der Universität Luxemburg Architekturentwurf, Städtebau sowie Städtebautheorie und -geschichte unterrichtet. Ein wesentlicher Bestandteil der Architekturkultur sei einfach analog. Zwar gab es schon in den Neunzigerjahren den Versuch eines "paperless studio". Der Architekt Bernard Tschumi und Kollegen wie Hani Rashid und Greg Lynn wollten damit an der Columbia University in New York die Ausbildung revolutionieren, sie setzten auf digitale Entwurfsmethoden. "Wir kamen uns furchtbar reaktionär vor", erinnert sich Hertweck, der an der Columbia studiert hat. "Während wir mit dem Zeichenbrett ankamen, saßen die schon alle hinter ihren Rechnern."

Hertweck will nicht das Eine gegen das Andere aufwiegen, sieht aber klare Nachteile, wenn wie jetzt das Analoge komplett fehlt. Die digitale Lehre begünstige den Frontalunterricht, Interaktion falle "zu einem gewissen Grad weg". Trotzdem seien seine Studenten in diesem Semester extrem motiviert gewesen, einige entwarfen sogar mit der Erlaubnis des Ministeriums Schutzmasken aus dem 3-D-Drucker. Doch gerade für seine Masterstudenten sei es frustrierend gewesen. Normaler Weise hätte sie ihre Master-Thesis feierlich vor großer Runde vorgestellt. Doch die Ansteckungsgefahr erschien als zu groß, die Präsentation durfte nur virtuell erfolgen.

Zumindest auf die Exkursionen, zentraler Bestandteil jeder Architekturausbildung, mussten die Studenten nicht komplett verzichten. "Ich bin ein Fan davon, im Regionalen zu arbeiten," sagt Florian Hertweck. Diesmal untersuchten die Studenten eben Luxemburg. Auch Hubert Klumpner hat schon vor der Coronakrise mit seinem Lehrstuhl das Reisen aus Umweltgründen drastisch eingeschränkt, den Fokus auf den Balkan statt auf Fernasien oder die USA gelegt. Dieses Semester analysierten die Studenten die Topografie Zürichs und fanden erstaunliche Parallelen zu Sarajewo.

Modelle und Entwürfe sind sehr oft nur dreidimensional wirklich zu begreifen

Eine gute Internetverbindung ist für die digitale Lehre Voraussetzung, gerade in der Architektur, wo oft große Datenmengen ausgetauscht werden. Doch nicht alle Studenten besitzen diese, genauso wie vielen ausreichend Platz zum Arbeiten und eine Hightech-Ausrüstung fehlt. "Viele leben in fragilen Verhältnissen", sagt Klumpner. Nicht selten habe er in den vergangenen Wochen Studierende auf den Freiflächen des Campus gesehen, die das kostenlose Wlan der ETH nutzten. In Zukunft müsste die Universität mehr Ausrüstung für zu Hause stellen, hochwertige Laptops etwa oder teure Computerprogramme.

Hubert Klumpner hat die Hoffnung, dass sich durch die Krise zumindest der Blickwinkel verändert: "Vieles, über das wir früher geredet haben, trifft jetzt auch bei uns zu" - Fragilität, soziale Asymmetrie, Armut. Vielleicht bedeute dies, "dass wir uns als Masse sehen und nicht mehr als Elite, die auf die Masse blickt". Die eigene Betroffenheit helfe zu verstehen: Studieren, um danach einfach irgendeinen Job zu bekommen, reiche nicht mehr. "Wir müssen viel stärker den Sinn und Zweck unseres Tuns hervorheben."

Und während manche in diesem Frühjahr konstatieren, dass Studierende sich jetzt von überall her in die Seminare einklicken, und die Hemmschwelle niedriger zu sein scheint, sich am digitalen Unterricht zu beteiligen, gibt es auch schon eine Gegenbewegung: Simon Denny kann von einer Klasse an der Rietveld-Akademie in Amsterdam berichten, "die so unglücklich mit der virtuellen Vermittlung sind", dass sie sich ein analoges Modell ausgedacht haben. Schlicht weil es immer auch um taktile Erlebnisse geht, um das Erfahren mit allen Sinnen. Das Modell in der Architektur genauso wie der Entwurf in der Kunst sind nur dreidimensional sprichwörtlich zu begreifen. "Die Amsterdamer Studenten drucken ihre Arbeiten aus, senden sie an die Kommilitonen oder Professoren, die sie mit den Händen bearbeiten und dann mit der Post wieder weiterschicken." Sage keiner, vom Digitalen gäbe es keinen Weg zurück ins Analoge.

© SZ vom 26.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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