Mode und Corona:So nicht!

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Die letzte ihrer Art? Gucci präsentiert seine Kollektion für Herbst/Winter 2020 auf einem Karussell. (Foto: Luca Bruno/AP)

Die Mode produziert schon länger an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Corona hat dieses Problem noch verschärft. Nun rätselt die Branche, wie es mit ihr weitergehen könnte.

Von Tanja Rest

Alessandro Micheles Nachricht auf Instagram war von ähnlich blumigem Eskapismus wie die Kollektionen, die er seit fünf Jahren für Gucci entwirft. "Deshalb werde ich mich vom abgedroschenen Ritual der saisonabhängigen Shows verabschieden, um einen neuen Rhythmus zu finden, der mehr meiner kreativen Ader entspricht", teilte er den Gucci-Followern am vergangenen Wochenende mit. "Wir werden uns nur zweimal im Jahr treffen, um gemeinsam Kapitel einer neuen Geschichte aufzuschlagen - unregelmäßige, frohe und absolut freie Kapitel." Starre Kategorien wie Frühjahr/Sommer und Herbst/Winter sowie die Zwischenkollektionen "Cruise" (kommt im November) und "Pre-Fall" (kommt im Juni) werde es in Zukunft nicht mehr geben.

Zwei Wochen zuvor hatte sich eine Gruppe von Designern unter der Regie des Belgier Dries Van Noten in einem offenen Brief an die Branche gewandt. Sie forderten, den Zeitpunkt der Auslieferung und Verramschung von neuen Kollektionen zu überdenken. Womit die quälendsten Probleme der Industrie nun von oberster Stelle erstmals öffentlich adressiert wären: der Anachronismus der Saisons; die unmenschliche Geschwindigkeit; die Überproduktion. Wer hätte das gedacht.

Es kann so nicht weitergehen

Die durch die Pandemie ausgelöschten Fashion Weeks, die unterbrochenen Lieferketten und unverkauften Frühjahrskollektionen haben etwas bewirkt, das in der fiebrigen Branche zuletzt keiner mehr für möglich gehalten hatte. Die Modekreativen mussten innehalten, und sie haben die Zeit genutzt, um über ihr Tun nachzudenken. Der Konsens, der sich in diesen Wochen abzeichnet, lautet: Es kann nicht weitergehen wie bisher. Auf dem Prüfstand steht nicht weniger als das ganze System.

Es ist ein System, dessen Zeitverständnis sich von dem der Kunden schon vor Ewigkeiten verabschiedet hat. Im Februar etwa werden die Herbstkollektionen gezeigt und im August an die Geschäfte ausgeliefert - im Hochsommer also, wenn sich der Bedarf an Cashmere-Sweatern und Daunenjacken in Grenzen hält. Im Oktober allerdings, wenn die Zeit gekommen wäre, fühlen sich die neuen Wintersachen schon wieder alt an - und dann drängen ab November ja auch die Cruise-Kollektionen schon wieder in die Läden. Tatsächlich beträgt die Halbwertszeit von Saisonware kaum mehr als sechs Wochen, dann beginnt unter der Hand schon der Schlussverkauf: 30 bis 50 Prozent Ermäßigung, um die Sachen schnellstmöglich aus den überquellenden Lagern herauszuschaffen, wo sie nur Kosten verursachen.

Zwischen Traum und Wirklichkeit: Yves Saint Laurent. (Foto: dpa)

Die Corona-Krise hat dieses Problem noch verschärft: Viele Labels sitzen gerade auf so viel unverkaufter Ware, dass sie eigentlich neue Lagerflächen anmieten müssten. Die Frühjahrskleider, in denen so viel Liebe, Kreativität und Arbeit steckt, sind Ende Mai 2020 nur noch teurer Ballast. Brancheninsider sagten im April schon voraus, dass "die Mutter aller Sales" bevorstehe, um die Sachen irgendwie noch loszuschlagen. Was übrig bleibt, wird entweder gespendet (unüblich), zu neuen Looks umgearbeitet (kostspielig) oder schlicht und einfach zerstört. Allein in Frankreich landen jedes Jahr 10 000 bis 20 000 Tonnen Textilien im Müll - ein offenes Geheimnis, über das die Marken nur ungern sprechen. Der Kunde könnte es übel nehmen.

All dies in einem Satz? Die Mode ist aus der Zeit gefallen. Sie produziert an den Bedürfnissen und Überzeugungen der Menschen mit Volldampf vorbei.

Nicht nur Alessandro Michele und Dries Van Noten setzen sich für ein Umdenken ein. Auch Altmeister Giorgio Armani hat sich von Mailand aus zu Wort gemeldet, in einem Brief an den Branchendienst Women's Wear Daily: Er halte es für "unmoralisch", wenn Luxusmode das Tempo von Fast Fashion übernehme und "vergisst, dass Luxus Zeit braucht, um erreicht und wertgeschätzt zu werden". Er schrieb: "Es macht keinen Sinn, dass eines meiner Jackets oder einer meiner Anzüge in einem Geschäft drei Wochen leben, bevor sie obsolet werden, ersetzt von neuen Waren, die nicht allzu verschieden sind." Der Branchendienst Business of Fashion veröffentlichte einen "Vorschlag, das Fashion-System neu zu verdrahten", mehr als hundert Modeschaffende unterstützten ihn.

Wer braucht einen Badeanzug im Februar?

Wie es aussehen könnte, dieses neue System? Zwischenkollektionen wie Cruise und Pre-Fall würden abgeschafft, die Kollektionen für Männer und Frauen zusammengelegt. Es gäbe dann pro Jahr nur noch zwei Fashion-Week-Monate: Januar für die Frühjahrs- und Juni für Herbstshows. Die Kollektionen würden zu einem Zeitpunkt ausgeliefert, in dem sie tatsächlich benötigt werden - denn wer braucht einen Badeanzug im Februar? Auch die Schlussverkäufe müssten nach hinten verschoben werden. Das wäre das Ende des amerikanischen "Black Friday" und all seiner weltweiten Klone, des Schlussverkaufs von Winterware schon im November. Unterm Strich würde weniger Ware langsamer und nachhaltiger produziert.

Ob es so kommen wird, ist ungewiss - zumal der Branchenriese LVMH bisher geschwiegen hat; die Top-Marken der Luxusgruppe, darunter Louis Vuitton und Dior, sind so gewichtig, dass sie die Regeln selbst diktieren können. Das Gleiche gilt für Chanel. Ein Fortschritt immerhin darf jetzt schon als erreicht gelten: Dass sich Kreative, die sonst bittere Rivalen sind, via Videochat zusammenfinden und gemeinsam an Lösungen arbeiten, das gab es in diesem Geschäft nämlich noch nie.

© SZ vom 30.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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