Serie: Traumreisen:Fahrt ins Blaue

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Geborgen zwischen Himmel und Wasser, nichts zu tun als Dösen, Essen und Nähe genießen. Wie schön es ist, auf einem Gulet-Boot mit Freunden durch die Türkische Ägäis zu gleiten.

Von Christiane Schlötzer

Zum letzten Mal haben wir diese Reise im Juni vor einem Jahr gemacht, als der nächtliche Sternenhimmel noch nichts von einer Pandemie wusste. Wir sind acht Menschen, die das Mittelmeer lieben und den Wind; unterwegs zu sein, ist für uns wichtiger als das Ziel. Wir haben diese Tour schon mehrmals unternommen, nicht immer in derselben Gruppe, aber eigentlich wollen alle jedes Jahr wieder mit. Wir sind Freunde, leben aber an verschiedenen Orten, und wenn wir uns gelegentlich sehen, dann gibt es nichts, worüber wir miteinander so ausgiebig schwärmen können wie über unsere "Blaue Reise", die "Mavi Tur", wie die Türken zu dieser Form der Seereise auf einer Gulet sagen.

Gulets sind dickbauchige, gutmütige Holzschiffe, und wenn Kapitän Hüseyin über seine Gulet spricht, dann klingt das, als rede er über ein Familienmitglied, das ihn nie im Stich gelassen hat. "Die Gulet ist sehr sicher", sagt er, die rechte Hand am großen Steuerrad, Blick über die Schulter. Der Kapitän - türkisch: Kaptan - manövriert das 21 Meter lange Boot mit geübter Leichtigkeit. Gewöhnlich beginnt unsere Tour in Bodrum, an der türkischen Südküste. Es kann sein, dass hier der Start etwas holprig verläuft, weil die Boote im Hafen so dicht liegen, dass sich eine Ankerkette in der andern verfängt.

Dann steigt Özal, der Koch (auf dem Schiff gibt es nur Vornamen), in das frei liegende Stück der Kette und balanciert wie ein Pirat übers Wasser, während der Kaptan manövriert. Sehr waghalsig sieht das für uns aus, aber Özal ist nicht nur Küchenchef, sondern auch Seemann, andernfalls würde er hier nicht zur Mannschaft gehören, die durch den Matrosen Mert komplettiert wird, einen 17-Jährigen mit kräftigen Armen - er wollte Kickboxer werden.

Endlich ist die vermaledeite Kette frei, das Boot gleitet voran. "Segel setzen", sagt der Kaptan, da eilt der Koch schon an den Mast. Wir dürfen mithelfen, an den Seilen ziehen, jeder drängelt sich nach dieser Nützlichkeit. Denn wir wissen schon, dass wir in den nächsten sieben Tagen zu einer Mannschaft verschmelzen werden, deren erste Matrosenpflicht die Faulheit ist.

Ein türkischer Dichter hat dieses genussvolle Zeitvertrödeln auf See erfunden, nur mit Romantik hatte das anfangs nichts zu tun. Der Poet lebte in der Verbannung, er hatte eine Kurzgeschichte verfasst, die einem Staatsanwalt missfiel. So war das schon vor 95 Jahren. Der Dichter Cevat Şakir wurde aus Istanbul ins 700 Kilometer entfernte Bodrum ins Exil geschickt. Heute ist Bodrum eine Art Biarritz der Türkei, damals war es ein armseliges Fischernest. Nur: Şakir beschrieb sein Exil in Büchern so hymnisch, dass zuerst Istanbuler Künstler unbedingt diesen inspirierenden Ort sehen wollten und dann die Reichen und die Adabeis, womit die Einöde Geschichte war. Şakir aber suchte weiter die Einsamkeit und fand sie auf den Gulets, mit denen die Fischer seit Ewigkeiten das Meer befahren.

Blick auf Bodrum, das heute eine Art Biarritz der Türkei ist. (Foto: imago/imagebroker)

Kaptan Hüseyin zitiert den Dichter aus dem Stegreif: "Siehst du Bodrum von oben, willst du umkehren, bleibst du aber, willst du nie wieder weg." Seine Familie lebe hier in der neunten Generation, sagt der 55-Jährige, "sie kamen wahrscheinlich aus Kreta". Kreta war einst osmanisch, heute ist Griechenland Nachbar der Türkei, in Sichtweite der Küste liegen zahlreiche griechische Inseln. Was diese Nähe bedeutet, werden wir auf unserer Reise erleben.

Aus dem Logbuch: Am ersten Tag umfahren wir die Spitze der Halbinsel Datça, es geht vorbei an der antiken Stadt Knidos, die in der Bibel erwähnt wird. In der Apostelgeschichte heißt es über Paulus' vierte Missionsreise: "Viele Tage lang machten wir nur wenig Fahrt und kamen mit Mühe bis auf die Höhe von Knidos. Dann zwang uns der Wind, den Kurs zu ändern." Uns trägt der Wind gnädig in eine stille Bucht, in die ein Süßwasserfluss mündet. Am Strand weiden Ziegen. Wir schwimmen vor dem Abendessen ans Ufer und wähnen uns bereits im Paradies. Kein weiteres Boot wird hier in dieser Nacht festmachen. Die Wellen schaukeln uns in den Schlaf.

Der Morgen ist frisch, die Luft noch feucht von der Nacht. Auf dem Achterdeck steht türkischer Tee auf dem Tisch, Özal, der Koch, ist als Erster wach geworden. Das Frühstück ist türkisch-üppig: Es gibt Spiegeleier, weißen Käse, Oliven, Gurken, Tomaten und Marmelade - als hätten wir eine lange Bergtour vor uns und würden nicht mangels Wind mit dem Motor weiterschippern.

Vor uns liegt die griechische Insel Symi, wir kommen ihrer zerklüfteten Küste so nahe, dass wir in griechische Gewässer geraten. Der Kapitän lässt die griechische Fahne hissen, das weiß-blaue Tuch flattert einträchtig neben dem roten Wimpel. Das Meer hat die Menschen von Inseln und Küste immer getrennt und doch auch verbunden. In Notzeiten flüchteten viele von den Inseln aufs Festland, im Zweiten Weltkrieg zum Beispiel, als Deutsche und Italiener die Inseln besetzten. Die Besatzer hatten fast alle Boote konfisziert, aber einige Griechen konnten Boote vergraben. Heute verlaufen die Fluchtwege in umgekehrter Richtung. Nach 20 Minuten geht die weiß-blaue Fahne wieder runter, wir sind zurück in türkischen Gewässern. Zu unserer Gruppe an Bord gehören auch eine Türkin und eine Griechin, sie sind Freundinnen seit Langem.

Der Tag vergeht mit Lesen, Dösen, Essen. Die Bucht, die wir für die Nacht ansteuern, hat türkisfarbenes Wasser. Der Koch steigt ins Beiboot und fährt zu einem Felsen in Strandnähe. Er legt eine Fischreuse aus. Wir sind nicht allein, ein Ruderboot steuert auf uns zu, darin ein altes Paar. Ob wir Kräuter wollen, fragt die Frau, sie hat ein Gesicht wie eine Indianerin. Sie habe sie an Land gesammelt, sagt sie und öffnet einen großen Sack voll grüner Blätter. Wir kaufen ein paar Büschel für wenige Lira. Die Kräuter sollen wir trocknen, dann hätten wir im Winter einen gesunden Tee, sagt der Kaptan.

Die rechte Hand am großen Steuerrad, Blick über die Schulter: So manövriert Kapitän Hüseyin sein Boot. (Foto: csc)

Es ist wichtig, sich gut zu verstehen, wenn man im selben Boot sitzt, aber Gulets sind geräumig, das Sonnendeck ist so groß, dass keiner einen Handtuchplatz reservieren muss. Früher war das alles primitiver, als der Dichter Şakir die Gulets für sich entdeckte, gab es keine Doppelkabinen unter Deck mit je eigener Nasszelle. "Wir sind nicht so komfortabel wie ein Hotel", sagt der Kaptan, "hast du fünf Sterne auf dem Meer, ist das keine Mavi Tur mehr." Eine Gulet bietet dafür den Luxus der Langsamkeit, des sanften Gleitens zwischen Himmel und Wasser.

In Bozburun, einem Fischerort, den der Tourismus bislang nur gestreift hat, gehen wir am Tag danach erstmals von Bord. Wir kaufen frisches Obst und ein paar Fische, weil der Ertrag der Reuse nicht so üppig war. Özal wird die Fische später grillen, der Gas-Grill wird über die Reling gehängt. Wir nennen Özal Zauberkoch, weil er aus der engen, stickigen Kombüse jeden Tag vier Mahlzeiten auf den Tisch bringt. Nur wer viel schwimmt, übersteht eine Mavi Tur unbeschadet.

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Auch die Tage verschwimmen bald, was in Erinnerung bleibt, ist die wechselnde Farbe des Meeres, das tiefe Blau und das noch tiefere Grün. Eine Bucht, in der Luftperlen zur Wasseroberfläche aufsteigen, sie explodieren wie ein Unterwasserfeuerwerk. "Methangas", sagt der Kaptan. An den Ufern der langen, schmalen Bucht gibt es Palmen. Ein seltener Anblick.

Einige Bäume stehen im Wasser. Kapitän Hüseyin erzählt, dass auch das Holz der Gulet im Meerwasser wuchs, in Afrika. "Das Holz liebt Salzwasser, Süßwasser macht es kaputt", sagt er. Dann kippt er mehrere Eimer mit Meerwasser auf das Deck seiner Alcatraz. Der Name erinnert an den Gefängnisfelsen in der Bucht von San Francisco. Aber dieses Schiff war nie außerhalb des Mittelmeers.

In einer Nacht probiere ich mit Maria, der Griechin, auf Deck zu schlafen. Der Blick in den Sternenhimmel ohne störendes Licht ist überwältigend. Aber die Luft ist feucht und Wind kommt auf, wir packen unsere Decken und gehen fröstelnd wieder in unsere Kabinen. Im Juni können die Nächte noch kühl sein, dafür sind die Tage nicht so heiß wie im Hochsommer. In dieser Nacht wird der Wind so stark werden, dass das Boot plötzlich einen kleinen Satz macht. Da springt auch schon der Motor an. Ich gehe noch mal an Deck und sehe, wie der Kaptan im Dunkeln am Steuer steht. Bald sind wir wieder sicher verankert. Hüseyin hat wohl einen leichten Schlaf, in dem jede Bewegung des Bootes eine Spur hinterlässt.

Mitte der Woche legen wir in Datça an. Datça ist das touristische Zentrum der Region, hier machen mehrere Gulets fest, um Frischwasser zu tanken und Abfälle zu entsorgen. Fünf Tonnen Frischwasser passen in den Bauch der Alcatraz. Für die Toiletten wird Meerwasser hochgepumpt, das geht in den Abwassertank. In der Türkei müssen alle Abwässer inzwischen in Häfen entsorgt werden. Nichts darf ins Meer. Die Strafen sind empfindlich hoch. Datça ist ein geschäftiges Städtchen, mit Hotels, vielen Cafés. Schon nach den wenigen Tagen auf dem Meer ist uns dieser Trubel zu viel. Nach kurzem Landgang kehren wir zum Boot zurück, da drängt der Kaptan auch schon zum Aufbruch.

Wir passieren ein Küstenstück mit einem riesigen Hotelpalast. Im Internet ist zu lesen, dass in einer anderen Bucht, unweit von Bodrum, Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen Sommerpalast hat erbauen lassen, gegen den Protest türkischer Umweltschützer. Das Küstenstück davor sei für private Boote gesperrt, auch für Gulets. Der türkische Tourismus hat in den vergangenen Jahren stark gelitten, erst gab es terroristische Anschläge, dann 2016 den Putschversuch und Erdogans Verhaftungswelle. 2019 kamen wieder mehr Touristen, Hotel- und Restaurantbesitzer atmeten auf, nun hat die Corona-Krise wieder viele Hoffnungen zerstört. Das trifft besonders kleine Familienunternehmen, die im Sommer so viel erwirtschaften müssen, dass sie den Winter überstehen.

Im Winter, sagt der Kaptan, pflege er sein Boot, der Rumpf wird gesäubert, Teile werden neu gestrichen. Und er besucht seine Kinder, die Tochter in Izmir ist Kardiologin, der Sohn will Ingenieur werden. Keiner wird Kapitän? "Die Kinder", sagt er, "müssen selbst entscheiden."

Der Dichter Şakir erhielt den Beinamen der "Fischer von Halikarnassos". Halikarnassos ist der antike Name von Bodrum. Die kleinasiatische Küste ist eine historische Schatztruhe. Wir machen auf dem Rückweg schließlich in Knidos fest, das wir auf der Hinfahrt passiert haben. Hier gab es in der Antike ein viel besuchtes Aphrodite-Heiligtum. Wir besichtigen ein antikes Theater, wandern auf Wegen aus Marmor. Şakir verwies nationalistische Vereinfacher einst darauf, dass Kleinasien die Wiege vieler Zivilisationen war, besonders hatten es ihm die griechische Mythologie und Philosophie angetan. Deshalb nannten er und seine Künstlerfreunde sich auch "Blaue Anatolier". Bevor er 1973 in Izmir starb, arbeitete der Poet in Bodrum noch als Touristenführer.

Als wir nach einer Woche wieder in Bodrum einfahren, sagen wir Kaptan Hüseyin zum Abschied: "Bis nächstes Jahr." Nun haben wir für 2020 von Juni auf September umgebucht. Inshallah!

© SZ vom 28.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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