Viersen:Die Akte Sandra M.

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Guido Roßkamp (links), der Leiter der Mordkommission, und Lothar Gathen, der Sprecher der Staatsanwaltschaft, geben Auskunft zum Fall Greta. (Foto: Marius Becker/Marius Becker/dpa)

Greta aus Viersen ist nicht der einzige Fall, der mit der 25-jährigen Erzieherin in Zusammenhang steht. Polizei und Staatsanwaltschaft berichten von Vorfällen mit mindestens drei weiteren Kindern in anderen Kitas.

Von Jana Stegemann, Viersen/Mönchengladbach

Direkt vor dem Kita-Eingang sitzen an diesem Donnerstagmittag zwei Security-Männer in einem Fiat 500. Das Medieninteresse ist so groß, dass diese Maßnahme seit Montagmorgen nötig ist. Die Kita "Steinkreis" in der nordrhein-westfälischen Stadt Viersen in einem gepflegten Neubaugebiet ist geöffnet, es dringen Kinderstimmen nach draußen. Den Spielplatz hinter der Kita umgibt eine hohe grüne Hecke, rechts von dem weißen Flachbau fließt ein künstlich angelegter, mit Beton eingefasster Kanal.

Vor der Kita liegen bunte Steine. Kleine und große, auf vielen steht in Kinderschrift ein Name: Greta. So heißt das kleine Mädchen, das in dieser Kita getötet worden sein soll - von seiner 25-jährigen Erzieherin Sandra M.

13 Kilometer entfernt, im Polizeipräsidium Mönchengladbach, verkündet der Leiter der Mordkommission, Guido Roßkamp, um kurz nach 14 Uhr bei einer Pressekonferenz, eine Neuigkeit, die erahnen lässt, welche Dimensionen diese Angelegenheit annehmen könnte. Greta ist wohl nicht der einzige Fall, der mit der Erzieherin in Zusammenhang steht.

Seit 2017 gab es, so Polizei und Staatsanwaltschaft, Vorfälle mit mindestens drei anderen Kindern in drei weiteren nordrhein-westfälischen Kitas: in Kempen, Tönisvorst und Krefeld. Immer, wenn Sandra M. Dienst hatte.

"Wir haben mit Erschrecken festgestellt, dass es da ähnliche Vorkommnisse gab", sagt Roßkamp. Ermittlungen gegen die Frau habe es wegen der Übergriffe aber bisher nicht gegeben.

Ermittelt worden sei gegen Sandra M. lediglich wegen des Vortäuschens einer Straftat. Sie hatte behauptet, ein Mann habe sie im Wald angegriffen, gegen einen Baum gedrückt und mit einem Messer verletzt, das habe sich als nicht zutreffend herausgestellt. Das Verfahren gegen Sandra M. sei damals jedoch von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden.

Plötzlich verdrehte der dreijährige Junge die Augen und war nicht mehr ansprechbar

Von August 2017 bis Juli 2018 absolvierte Sandra M. in einer Kita in Krefeld ihr Anerkennungsjahr. Schnell sei dort aufgefallen, so die Ermittler, dass sich die junge Frau nicht zur Erzieherin eignete. Die Kolleginnen und Kollegen hätten festgestellt, dass M. Empathie für die Kinder fehle, es ihr nicht gelungen sei, eine Beziehung zu ihren Schützlingen aufzubauen, sie keinen Zugang zu den kleinen Mädchen und Jungen gefunden habe. "Jemand sagte, die wäre nicht mal dazwischen gegangen, wenn Kinder mit Eisen-Schüppen aufeinander losgegangen wären", sagt Manfred Joch, der Leiter der Direktion Kriminalität in Mönchengladbach.

Im November 2017 sei M. eines Mittags zu ihren Kolleginnen gekommen und habe teilnahmslos gesagt, dass mit einem der Jungen "etwas nicht in Ordnung" sei. M. war an dem Tag für die Überwachung des Mittagsschlafs zuständig, ihre Kolleginnen fanden einen dreijährigen Jungen mit verdrehten Augen vor, der nicht mehr ansprechbar war. Ein Notarzt wurde gerufen, das Kind musste in einer Klinik behandelt werden. Die Mutter des Jungen sagte den Ermittlern zufolge inzwischen aus, ihr Kind sei damals ängstlich gewesen, erst nachdem M. nicht mehr dort gearbeitet habe sei ihr Sohn "wieder mit Freude in die Kita gegangen".

Es soll mehrere Fälle in mehren Kitas in NRW geben, mit denen Sandra M. in Zusammenhang steht. (Foto: Marcel Kusch/dpa)

Ein anderes Mädchen aus einer Kita in Tönisvorst, wo M. von September bis November 2018 tätig war, erzählte seinem Vater später, dass die Erzieherin "sehr feste auf meinen Bauch gedrückt hat". In einer Kita in Kempen gab es den Ermittlern zufolge zwischen August 2018 und Juni 2019 mindestens vier Vorfälle mit einem damals zweijährigen Jungen, der ebenfalls nach Krampfanfällen und Atemnot mit einem Notarzt ins Krankenhaus kam. Die Ärzte vermuteten zuerst Epilepsie, doch dem Kind ging es schnell besser.

An ihrem vorletzten Arbeitstag in der Kita in Viersen am 21. April war M. dann ab 13.30 Uhr mit der zweijährigen Greta alleine. Es war der erste Tag, an dem die alleinerziehende Mutter des Mädchens ihre Tochter in die Notbetreuung gebracht hatte. In den Wochen zuvor war Greta von ihrer Patentante betreut worden. Die Mutter beschrieb ihr Kind als "lebenslustiges, aktives, gesundes, robustes Kind". Das Mädchen spielte gerne mit seinen beiden großen Brüdern, sechs und zehn Jahre alt.

Um 14.45 Uhr will die Frau bemerkt haben, dass das Kind nicht mehr atmete

An jenem 21. April war Greta das einzige Kind in der Gruppe von M. und dem Bezugsbetreuer des Mädchens. Als dieser um 13.30 Uhr ging - nachdem Greta zum Mittagsschlaf in ihr Bettchen gebracht worden war - sei nur noch M. im Raum gewesen. Diese gab den Ermittlern zufolge in einer ersten Befragung an, regelmäßig eine Atemkontrolle durchgeführt zu haben, indem sie im 15-Minuten-Rhythmus ihre Hand auf den Brustkorb des Mädchens gelegt habe. Um 14.45 Uhr will die Frau dann bemerkt haben, dass das Kind nicht mehr atmete. Sie habe ihre Kolleginnen aus einer anderen Gruppe alarmiert. Die fanden Greta leblos und blass vor, bekamen das Mädchen nicht wach. Eine Erzieherin und die gerufene Feuerwehr reanimierten das Kind bis zum Eintreffen des Notarztes, der einen Atemstillstand feststellte.

In der Klinik bemerkten Ärzte rote Pünktchen auf den Augenlidern und im Gesicht, sogenannte petechiale Einblutungen - ein deutliches Zeichen auf Sauerstoffmangel nach Gewalteinwirkung. Doch es dauerte acht Tage, bis sich ein Arzt der Kinderklinik Viersen am 29. April bei der Polizei meldete - mit dem Hinweis, dass man sich den Zustand des Mädchens nicht erklären könne. Greta starb am 4. Mai, einen Tag nach ihrem dritten Geburtstag. Die Obduktion ergab massive Hirnschäden durch Sauerstoffmangel.

Die Untersuchungen in den Kitas in Kempen und Krefeld laufen noch, außerdem meldete sich eine weitere Mutter bei den Ermittlern. Sandra M. sitzt in Untersuchungshaft. Die Ermittler werfen ihr nicht nur den Mord an Greta vor, sondern auch die Misshandlung von Schutzbefohlenen. Die Nachforschungen in den anderen Fällen dauern noch an. Sandra M. schweigt bisher zu den Vorwürfen.

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