Null Acht Neun:Die Schule des Lebens

Biergärten öffnen wieder, auch Theater und Opern, doch am wichtigsten ist für den Münchner der Besuch im Freibad. Notfalls durch ein Loch im Zaun

Kolumne von Wolfgang Görl

Merkwürdig, dass fast jede Woche neue Lockerungen in Kraft treten, obwohl Bill Gates' finsterer Plan, mit Hilfe des Coronavirus die Welt und das Impfwesen zu beherrschen, noch immer nicht verwirklicht ist. Sogar Wirtshäuser darf man wieder besuchen, wobei das Wiedersehen mit unserer Stammkneipe ähnlich ergreifend verlief wie die Heimkehr des Odysseus nach Krieg und zehnjähriger Irrfahrt. Gleich dem Telemachos, der den verloren geglaubten Vater freudeschluchzend begrüßte, fiel uns der Wirt tränenreich um den Hals, küsste, drückte und umarmte uns, weshalb jetzt zwei Wochen Quarantäne drohen. Aber egal. Hauptsache, es geht wieder locker zu, und die Menschen können aufatmen und Gas geben wie in den goldenen Zeiten vor Corona.

Dass auch Theater und Konzerthallen den Betrieb bald wieder aufnehmen, ist zwar nicht halb so bedeutsam wie die Öffnung der Biergärten, aber doch ebenfalls eine gute Nachricht - zumindest vordergründig. Liest man das Kleingedruckte, so fällt auf, dass nur 50 Menschen im Zuschauerraum sitzen dürfen, wenn Romeo stirbt oder der Tristan-Akkord erklingt - und damit ist klar: Man selbst wird nie dabei sein. Wie auch? Schon in den Zeiten, als Corona noch in Gestalt eines mexikanischen Biers sein Unwesen trieb, war jede Oper und jede Tragödie, die zu sehen man als Münchner Kulturbürger verpflichtet gewesen wäre, restlos ausverkauft, ehe man überhaupt davon erfuhr. Vermutlich werden die Theaterkarten von Geheimagenturen im Darknet verkloppt, und das Passwort kriegen nur systemrelevante Münchner wie die Wiesnstadträtin oder der Chef der Metzgerinnung. Wenn jetzt lediglich 50 Billetts zu haben sind, dürfte es selbst für den Oberbürgermeister eng werden.

Seien wir ehrlich: Auch das wäre zu verschmerzen, es geht ja nur um Kultur. Und was ist das schon im Vergleich zur Freudenbotschaft, dass die Freibäder öffnen? Das Freibad ist nicht ein x-beliebiger Ort wie etwa Staatsoper oder Kammerspiele, sondern für den eingeborenen Münchner sind Freibäder die Schule des Lebens. Hier hat er oder sie schon in jungen Jahren gelernt, dass Eintritt zu zahlen gut ist, der Gratiszugang durch ein Loch im Zaun aber viel besser; hier haben sie die erste Zigarette geraucht, den ersten Kuss erlitten und herausgefunden, dass Langnese-Eis, Cola und Pommes eine solide Basisernährung sind. Generationen junger Männer haben im Dante- oder Michaelibad geprobt, wie ein Adonis zu posieren, und wer heute an südlichen Stränden einen Achtzigjährigen sieht, der mit eingezogenem Bierbauch und Stringbadehose vor den Beachgirls paradiert, weiß sofort, das ist ein Münchner. Nicht auszudenken, wären pädagogische Anstalten wie die Freibäder im Sommer geschlossen, zumal Söder den Bayern auferlegt hat, Urlaub im eigenen Land zu machen.

Aber was, wenn jetzt alle ins Freibad wollen? Noch dazu, wo viel weniger reindürfen als früher und man die Eintrittskarten im Internet reservieren muss. Hundertprozentig sind schon wieder alle vergriffen, und unsereins kriegt nur ein Ticket für August 2025. Hoffentlich gibt's noch das alte Loch im Zaun.

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Michaelibad in München, 2019

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