Frankreich:Neustart der Nation: Sonntag, 20 Uhr

Frankreich: Viele Franzosen zeigen sich solidarisch mit den Anliegen schwarzer Amerikaner im Protest gegen Rassismus.

Viele Franzosen zeigen sich solidarisch mit den Anliegen schwarzer Amerikaner im Protest gegen Rassismus.

(Foto: Francois Mori/AP)

Das Virus ist zurückgedrängt, doch die Wirtschaft liegt am Boden - und nun schwillt Protest an gegen Rassismus und Polizeigewalt. Präsident Macron steht vor einer besonderen Rede an die Nation.

Von Nadia Pantel, Paris

Das Ausmaß der Krise lässt sich auch anhand der Dimension der Gerüchte vermessen. Am Donnerstag schrieb die konservative Tageszeitung Le Figaro, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron denke über einen Rücktritt nach, um vorgezogene Neuwahlen zu ermöglichen, als deren Sieger er sich sehe. Durch dieses Manöver wolle er sich des Rückhalts der Franzosen versichern. Das Gerücht wurde so breit diskutiert, dass sich der Élysée-Palast noch am Donnerstag zu einem Dementi genötigt sah: Der Rücktritt des Präsidenten habe zu keinem Zeitpunkt zur Debatte gestanden.

Dass Frankreich vor einer Zäsur steht, bestreitet jedoch niemand. Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, hatte das Land das öffentliche Leben und die Wirtschaft acht Wochen lang, von Mitte März bis Mitte Mai, drastisch lahmgelegt. Den Neubeginn soll nun eine Rede an die Nation markieren. Präsident Macron wird sich am Sonntagabend um 20 Uhr in einer Direktübertragung an die Bevölkerung wenden. In der Theorie könnte Macron die Gelegenheit nutzen, den Franzosen und sich selbst zu gratulieren.

Am Mittwoch hatte der wissenschaftliche Beirat offiziell erklärt, die Pandemie sei "unter Kontrolle". Der medizinische Notstand, eine eigens für Covid-19 geschaffene Form des Ausnahmezustands, soll nicht über den 10. Juli hinaus verlängert werden. Wurde vor ein paar Wochen noch darüber spekuliert, dass die Schulen erst von September an wieder öffnen könnten, werden die hygienischen Vorsichtsmaßnahmen schon von kommender Woche an deutlich heruntergefahren. Mehr und mehr Schüler kehren in ihre Klassenzimmer zurück. Und an Frankreichs Stränden, die man bis Mitte Mai zwei Monate lang überhaupt nicht betreten durfte, sammeln sich die Badegäste, ohne dass es zum alarmierten Aufschrei der Virologen käme.

Tausende demonstrieren trotz Verbots

Doch der Fokus hat sich längst verschoben. In seiner ersten Fernsehansprache, nachdem er dem Land eine strenge Ausgangssperre verordnet hatte, erklärte Macron dem Virus den Krieg. Nun, wo es so wirkt, als sei der Feind wenigstens ein Stück weit besiegt, kommen die massiven Kollateralschäden in den Blick. Frankreichs Wirtschaft rechnet mit einem Einbruch von mindestens elf Prozent.

Finanzminister Bruno Le Maire rechnet damit, dass 800 000 Franzosen bis Ende des Jahres ihren Job verlieren. Macrons erste Erfolge, die sinkende Arbeitslosigkeit und steigende Investitionen, sind durch Corona zunichte gemacht. Schon jetzt wissen die Armenspeisungen kaum noch, wie sie dem neuen Ansturm gerecht werden können. Die Nothilfeorganisation Secours Populaires hat bei ihren Essensausgaben allein zwischen Mitte März und Mitte Mai 45 Prozent mehr Menschen versorgen müssen als zuvor.

Gleichzeitig finden die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt, die durch den Mord an George Floyd in den USA ihren Anfang nahmen, in Frankreich ein gewaltiges Echo. Trotz eines monatelang geltenden Demonstrationsverbots, das das höchste Verwaltungsgericht erst am Samstag wieder ausgesetzt hatte, sind seit 2. Juni im ganzen Land Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen. Auch am Samstag demonstrierten Tausende. Die Bewegung wird vor allen Dingen von jungen Menschen getragen, die sich solidarisch mit den Anliegen schwarzer Amerikaner erklären, gleichzeitig jedoch Missstände in Frankreich anklagen.

Antirassistische Organisationen prangen brutale Festnahmetechniken an

Das Waffenarsenal der französischen Polizei - anders als in Deutschland dürfen Gummigeschosse und Tränengasgranaten eingesetzt werden - steht in der Kritik, seit Dutzende Demonstranten bei den Protesten der Gelbwesten ihr Augenlicht verloren haben. Antirassistische Organisationen prangern zudem brutale Festnahmetechniken an, die besonders häufig bei nicht-weißen Franzosen angewendet werden.

Frankreichs Innenminister Christophe Castaner untersagte am Montag zwar die weitere Anwendung eines Würgegriffs, betonte jedoch gleichzeitig, dass allein schon der Begriff "Polizeigewalt" ein Angriff auf die Würde der Beamten sei.

Im Zentrum der Diskussionen steht außerdem immer wieder die Statue Jean-Baptiste Colberts (1619 - 1683), die vor der Nationalversammlung thront. Colbert hatte als Finanzminister unter König Ludwig XIV. die Kolonialpolitik begründet. Auf Colbert geht der "Code noir" zurück, ein Gesetz, das Schwarze entmenschlicht und die rechtliche Grundlage der Sklaverei auf Frankreichs Zuckerrohrplantagen bildete. Der Ehrenpräsident des Dachverbands schwarzer Organisationen in Frankreich nennt Colbert den "Feind der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit". Aktivisten fordern, Colbert von seinem Podest zu stürzen.

Es sei wichtig, dass Ordnungskräfte "nicht in den Dreck gezogen" würden

Macron hatte in seiner Zeit als Präsidentschaftskandidat den französischen Kolonialismus ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" genannt, zu der jüngsten Rassismusdebatte hat er bislang jedoch geschwiegen. Über die Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye ließ er am Mittwoch lediglich verkünden, er halte den Rassismus für "eine Krankheit, die die gesamte Gesellschaft betrifft". Es sei jedoch wichtig, dass die Ordnungskräfte "nicht in den Dreck gezogen" würden.

Von Macrons Rede an die Nation wird nun erwartet, dass er sich sowohl zu den sozialen Unruhen als auch zur ökonomischen Misere äußert. Zudem wird darüber spekuliert, welche Strategien er vorschlagen wird, die über die Analyse der Situation hinausgehen. So könnte er eine Umbildung der Regierung anordnen.

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