Blutiger Krimi:Tarantino im Dachauer Hinterland

Florian Göttler scheibt einen deftigen Thriller

Von Gregor Schiegl, Dachau

Kriminalkommissar Jonas Hofmann liegt auf dem Boden, sein Oberschenkel ist zerfetzt von einer Kugel, das Blut strömt aus der Wunde. Um seinen Seelenfrieden zu finden, ist der Polizist der Stadt entflohen und raus aufs Land, doch in dem oberbayerischen Dorf mit dem idyllischen Namen Himmelreich ist die Hölle los. Hier wird scharf geschossen, hier wird vergewaltigt, hier wird erpresst und gemauschelt und intrigiert, dass die Schwarte kracht. "Verfluchte Scheiße, wo bist du da nur hingezogen?", schimpft sein Freund Dr. Jens, der versucht, den Kommissar vorm Verbluten zu retten.

Nach seinem Erstlingswerk "Voll aufs Mal", ein aus skurrilen Kurzgeschichten zusammengefügter Roman, legt der Dachauer Autor Florian Göttler nun einen Thriller mit Dachauer Kolorit vor. "Ein Heimatlied von Gier und Grausamkeit" lautet der Titel des 420 Seiten starken Werks. Die Orte der Umgebung heißen Röhrmoos und Ampermoching, man trinkt Maierbräu, und die Polizei im 150 000-Einwohner-Landkreis Audach muss, wie im echten Dachau, das Gebiet mit nur zwei Streifenwagen abdecken.

Die Schlussszene mit dem blutenden Kommissar hat Göttler an den Anfang gestellt und schafft damit gleich einen atemlos spannenden Einstieg. Schreiben kann der junge Autor, keine Frage, auch der Plot ist akkurat ausgetüftelt, viele Szenen sind mit beeindruckendem Detailreichtum ausgearbeitet. Außerdem kann Florian Göttler, der selbst jahrelang in Dachau als Gerichts- und Lokalreporter unterwegs war, aus einem reichen Erfahrungsschatz über Sitten und Unsitten des Dachauer Landlebens schöpfen. Dazu kommen die tiefgreifenden Verwerfungen, die Siedlungsdruck und Strukturwandel auf ländliche Kommunen mit sich bringen: Flächenfraß, Umweltzerstörung, aber auch das Sterben kleinerer Läden. All dies lässt Göttler in kleine Szene oder Dialoge mit einfließen. Manchmal ist es ein bisschen zu viel des Guten, und die Handlung wird mit Exkursen und Anekdoten etwas überfrachtet. Gerade das erste Drittel des Buchs kommt nur langsam in die Gänge. Dafür wird es später umso rasanter.

Protagonisten sind die bildhübsche Himmelreicher Bürgermeistertochter Anna Kammergruber und der traumatisierte Kriminaler Jonas Hofmann. Beide haben ein starkes Gerechtigkeitsempfinden, was sich aber keineswegs mit strenger Rechtstreue deckt. Hofmann macht sich selbst zum Gesetz, und er ist nicht der einzige in dieser Geschichte. Natürlich ist das Verbrechen immer da, wo der Ermittler weilt, und so wird Himmelreich gleich von mehreren Untaten erschüttert. Wie in Dantes Höllenkreis eskaliert der Grad von Schuld und Gewalt: Hofmanns erster Fall ist eine tragische Geschichte um Sterbehilfe, die der Polizist mehr vertuscht als aufdeckt (in seiner moralischen Kategorisierung ein "Fall 4"), es folgen ein rassistischer Komplott, ein Notwehrexzess, ein Raubmord und ein sexueller Missbrauch, begangen durch einen Mann der Kirche, dessen letzte Momente in einer herrlichen Angelszene beschrieben wird: ein dicker Mann im Kampf gegen einen Vier-Meter-Waller. Hemingway lässt grüßen.

Als zentrales Thema seines Buchs formuliert Göttler die Frage: "Darf man das Recht in die eigene Hand nehmen, wenn das Ziel edel genug ist?" Göttler setzt dazu wuchtige literarische Referenzen, namentlich Steinbecks "Früchte des Zorns" und Dostojewskis "Schuld und Sühne". Behandelt wird das Thema aber eher im Stile Quentin Tarantinos; es spritzt viel Blut und Gehirn, wobei Göttler im Reigen des Ekligen wirklich alle Register zieht: Es wird in die Hosen gepisst und geschissen, viel gekotzt (unter anderem eine halb verdaute Gulaschsuppe über eine massakrierte Frau). Ob das dem Lesegenuss zuträglich ist, mag jeder selbst entscheiden.

An Mut mangelt es dem Autor jedenfalls nicht. In einem "Zwischenspiel" rechnet er mit Himmelreich ab und führt dazu Persönlichkeiten als Kronzeugen auf, die trotz ihrer zweifelhafter Taten dort bis heute höchstes Ansehen genießen: ein Altlandrat, der im Aufsichtsrat nicht richtig hingeschaut hat, ein Priester, der sich nach dem Krieg als Widerstandskämpfer gerierte, der er nie war, sowie ein Wirt, der seine Frau halb tot schlug, aber allen als herzensguter Kerl in Erinnerung bleibt. Auch wenn all dies ausdrücklich literarische Fiktion ist - die realen Dachauer Vorbilder sind schwer zu übersehen.

Leider bleiben Florian Göttlers ureigene Geschöpfe seltsam blass und eindimensional, trotz aller Schrullen und Macken, mit denen er sie ausgestattet hat. Gerade gegen Ende des Buchs ist auch nicht mehr zu übersehen, dass der Plot, mit den Motiven und Eigenschaften der Charaktere nicht mehr so richtig zusammenpasst, was ihnen auch noch den Rest Glaubwürdigkeit raubt. Da tanzt die Vorsitzende eines Dorfvereins einer eiskalten Killerin tagelang auf der Nase herum, einer Killerin wohlgemerkt, die früher bei Militäreinsätzen in Afghanistan Terroristen abgeknallt hat. Doch in einem bayerischen Dorf scheint sie alles zu überfordern. Alles was ihr einfällt, ist sich nackt auszuziehen und mit Oralsex zu locken. - Echt jetzt?!

Generell schwer erträglich ist die Art und Weise, wie junge Frauen in dem Buch dargestellt werden. Vor allem die Protagonistin Anna Kammergruber. Immer trägt sie zu kurze und zu enge Kleider, immer spreizt sie die Beine, immer stehen ihr die Nippel hart ab und drücken sich durch den Stoff, ständig ist sie scharf, immer will sie es von irgendwelchen Kerlen besorgt bekommen, während die Männer sich hilflos ihren unwiderstehlichen Reizen ergeben. Nichts gegen Erotik, nichts gegen explizite Szenen, aber muss es wirklich pausenlos so schlüpfrig safteln?

"Ein Heimatlied von Gier und Grausamkeit" ist ein Buch, das einige sehr gute Momente hat. Für ein gutes Buch hat es dann aber leider einige schlechte Momente zu viel. Als Lektüre beim Essen ist es definitiv ungeeignet. Wer als Dachauer aber Gesprächsstoff sucht, sollte nicht zögern zuzugreifen.

Florian Göttler: "Ein Heimatlied von Gier und Grausamkeit" ist im Buchhandel unter Angabe der ISBN-Nummer 978-3740764364 bestellbar sowie auf der Publishing-Plattform www.twentysix.de. Das Taschenbuch kostet 13,95 Euro, das E-Book 4,99 Euro. Wegen der Corona-Pandemie plant Florian Göttler derzeit keine Lesungen.

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