Lewis Hamilton:Eine Geschichte über Größe

Lewis Hamilton

"Einige von Euch sind die größten Stars und bleiben noch still mitten in dieser Ungerechtigkeit" - Lewis Hamilton ermahnt die Formel 1.

(Foto: David Davies/dpa)

Ausgerechnet im glattgebügelten Konzernumfeld der Formel 1 ist einer der politischsten Weltsportler herangereift: Lewis Hamilton. Nun mobilisiert der schwarze Weltmeister seine sehr weiße Branche im Kampf gegen Rassismus.

Von Philipp Schneider

Drei Monate ist es jetzt her, als Lewis Hamilton schon einmal seine Stimme erhob, so laut und klagend wie in dieser Woche. Als er klar erkannte, dass er die Dinge verändern kann, wenn er die Bühne nutzt, die ihm gegeben ist als der politische Rennfahrer, der er ist.

Es waren noch andere Zeiten, damals, vor einem Vierteljahr. Nicht alle Menschen trugen jenseits ihrer Haustür Gesichtsmasken, es war noch nicht die Rede von einer aus der Statistik entliehenen Kurve, die abgeflacht werden sollte, den Begriff des Social Distancing kannten allenfalls Epidemiologen und Historiker. Und vier Rennfahrer saßen auf einem Sofa in Melbourne, in einem Raum ohne Fenster. Ihr Abstand? Nicht ein Meter fünfzig. Kuschelig, eher Schulter an Schulter.

Draußen im Albert Park schien die Sonne, Mitte März, im australischen Spätsommer. Und weil es erst der Donnerstag vor dem geplanten Formel-1-Rennen am Sonntag war, liefen nun vor allem Schulkinder über die Wiese neben dem Fahrerlager, noch nicht die harten Jungs, die Petrol Heads, die frühestens am Freitag kommen, wenn die Motoren wummern.

Manchmal erkennt man die Schieflage der Dinge daran, wie sehr sich die Menschen mit dem Arrangement von Kleinigkeiten mühen, Normalität vorzugaukeln. An jenem Tag waren es die Steriliumspender, die die Veranstalter überall auf der Wiese verteilt hatten und um die die Schulklassen nun desinteressiert, aber nicht desinfiziert rechts und links herumliefen wie eine Herde Antilopen um einen Felsen.

Hamilton prangerte den geplanten Saisonstart an

Das Virus Sars-CoV-2 hatte längst den Planeten erfasst, die USA hatten ihre Grenzen soeben dicht gemacht für Passagiere aus Europa, die Basketball-Liga NBA hatte ihren Betrieb eingestellt. Aber hier, in Australien, wo die Formel 1 ihre Wettfahrten aufnehmen wollte, als ließe sich die Gefahr von den Fingern waschen, fehlte das Bewusstsein für den größeren Zusammenhang. Nur bei Lewis Hamilton nicht. Er lehnte ruhig auf der Couch. Und als er vom Moderator gefragt wurde, wie es sich anfühle, in Australien zu sein, da sagte er: "Ich bin sehr, sehr überrascht, dass wir hier sind. Ich bin schockiert, dass wir hier alle in einem Raum sitzen."

Neben ihm saß der Rennfahrer Sebastian Vettel. Er sah es plötzlich auch ein bisschen so wie Hamilton. Und schon nahm eine hitzige Debatte über Sinn oder Wahnsinn des anstehenden Rennens ihren Lauf.

In der folgenden Nacht wurde die Sause abgesagt, nachdem bekannt geworden war, dass ein Mitarbeiter von McLaren das Virus aus England mitgebracht hatte. Aber eine Frage stellt sich noch heute: Welchen Ausgang hätte die ohnehin knappe Abstimmung der Teamchefs zum Abbruch des Rennens genommen, hätte sich Hamilton nicht schon vorher zum moralischen Klassensprecher aufgeschwungen?

"Cash is King", sagte er noch auf die Frage, welches Argument überhaupt vorstellbar sei für das Festhalten am Saisonstart der Veranstalter in Melbourne. Geld regiere die Welt. Auch damit lag er vermutlich richtig, zumal er mit einem kolportierten Jahresgehalt von 50 Millionen Dollar genau wusste, wovon er sprach.

"Ich sehe diejenigen von Euch, die still bleiben"

Mit jedem sportlichen Erfolg, so wirkt es inzwischen, wächst auch der Mensch Lewis Hamilton hinter dem Lenkrad. Je mehr Pokale er sammelt, desto politischer wird er. Themen hat er schon immer gerne gesetzt, aber seit einiger Zeit werden sie relevanter. "Die Dinge, die ein Rennfahrer abseits der Rennstrecke vollbringt, potenzieren seine Größe auf der Strecke", hat er im SZ-Interview gesagt. Abseits der Rennstrecke gibt es keine Fernsehkameras, keine Radiosender, die berichten könnten. Aber Hamiltons Handykamera. Und die sozialen Medien. 5,7 Millionen Menschen folgen ihm auf Twitter, 16,6 Millionen bei Instagram. Seinen persönlichen Bühnen. Er sagt: "Menschen wollen einen persönlichen Zugang haben zu den Prominenten, die sie aus dem Fernsehen kennen. Sie wollen das permanent, an jedem Wochentag."

Auf seinen Rücken hat er sich vor Jahren ein riesiges Kreuz tätowieren lassen, umrahmt von Engelsflügeln, darüber der Spruch: "Still I Rise" - seine Größe werde noch zunehmen. Man darf das auf den Sport beziehen, jenes Metier, in dem er kurz davor steht, Michael Schumachers Einzigartigkeit zu beenden. Noch acht Siege, und er wird mit 92 Pokalen bei Grand- Prix-Rennen der erfolgreichste Formel-1-Pilot der Geschichte sein. Noch ein Weltmeistertitel, und er hat sieben. Wie Schumacher. Das reicht ihm aber nicht. Es geht ihm - mehr als Schumacher - auch um sein Werk jenseits der Strecke. "Still I Rise." Und so hat Hamilton einer Krankheit den Kampf angesagt, vor der man sich hinter keinem Mundschutz verstecken kann: dem Rassismus, der die Gesellschaften im Zangengriff hat und der seit dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einer Polizeiaktion in den USA weltweit für Proteste sorgt.

Nur nicht in der Formel 1, die mal wieder Hamiltons Nachhilfe bedurfte.

"Ich sehe diejenigen von Euch, die still bleiben, einige von Euch sind die größten Stars und bleiben noch still mitten in dieser Ungerechtigkeit", schrieb er. "Nicht ein Zeichen von irgendjemandem in meiner Industrie, die natürlich ein von Weißen dominierter Sport ist." Er sei einer von wenigen dunkelhäutigen Menschen im Rennsport und stehe noch allein, so Hamilton. Daraufhin reagierten seine Kollegen bei Mercedes: "Wir stehen bei dir, Lewis. (...) Die jüngsten Entwicklungen machen uns zutiefst traurig, und wir hoffen auf eine baldige Deeskalation." Nun meldete sich auch Charles Leclerc. "Seid nicht still", schrieb der Kollege von Sebastian Vettel bei Ferrari; auch die britischen Piloten Lando Norris und George Russell schreckte Hamilton auf unter ihren Steinen.

Und dann legte Hamilton nach. Als Reaktion auf die Aktivisten in Bristol, die vor einigen Tagen ein Denkmal des Sklavenhändlers und Kaufmanns Edward Colston gewaltsam vom Sockel gerissen und im Fluss versenkt hatten, schrieb Hamilton: "Unser Land hat einen Mann geehrt, der afrikanische Sklaven verkauft hat! Alle Statuen von rassistischen Männern, die Geld mit dem Verkauf eines Menschen verdient haben, sollten abgerissen werden. Welche ist die nächste?"

Die Debatte, wie mit den Statuen von Sklavenhaltern und mit nach einst für die Sklaverei kämpfenden Generälen benannten Militärcamps zu verfahren ist, bringt inzwischen auch US-Präsident Donald Trump in die Defensive - und dazu, seinen Charakter offenzulegen. Hamilton ist bei weitem nicht der einzige Sportler, der sich der Bewegung "Black lives matter" angeschlossen hat. Aber er äußert seine Kritik in einem Habitat der Großkonzerne, in dem politische Zwischenrufe noch seltener sind als in anderen Sportarten. Er erlaubt es sich, eine starke Meinung zu haben in einer Welt der Markenrichtlinien, in der sich die Rennfahrer klaren Tages-, Monats- und Jahresabläufen zu fügen haben. Der besondere Stellenwert des Angestellten Hamilton für Mercedes, das sagte Teamchef Toto Wolff der SZ, bestehe jenseits seiner sportlichen Erfolge darin, dass er zur "Avantgarde" zähle.

Lange Leine bei Mercedes

Zur Avantgarde kann nur einer gehören, dem die Freiheit gelassen wird, in alle gesellschaftlichen Sphären vorzustoßen. Deshalb lassen sie Hamilton bei Mercedes eine ungewöhnlich lange Leine: Zumindest vor Corona, wie es so schön heißt, flog er in der Weltgeschichte umher wie ein Investmentbanker. Von London nach New York. Zur Fashion Week in Mailand. Wenn Hamilton vor seinem Heim-Grand-Prix in Silverstone ein paar Tage Urlaub machte auf Mykonos und Partyvideos hochlud, in denen tanzende Männer Schnorchelmasken trugen, dann war die Aufregung vergleichsweise überschaubar. Weil Hamilton nach der Party auch wieder lieferte.

Seine Ernährung hat er in der entscheidenden Phase der Saison auf vegan umgestellt, niemand hat sich beschwert. Wer zürnt einem Fahrer, der in sechs Jahren fünf Weltmeisterschaften gewinnt? Und so lassen sie ihn bei Mercedes Songs schreiben, Mode kreieren, auch auf der Trauerfeier von Karl Lagerfeld ließ er sich blicken. Immer wieder äußert er Sympathie für die Bewegung von Greta Thunberg, die ja nicht die allerbeste Freundin der Autobauer in Stuttgart ist. Aber wenn er dann von seinem elektrischen Smart erzählt, der neben all den Supersportautos in seinem Fuhrpark steht, die mehr Hubraum als ein Partyfässchen haben, dann wird der Vortrag unfreiwillig komisch.

Manchmal wird Hamilton so sehr von seiner Kreativität übermannt, dass er in die falsche Schublade greift. Dann muss er sich entschuldigen. Für ein Video, in dem ein Hund bewundernswert ausdauernd auf einer Puppe herumturnt, die erstaunliche Ähnlichkeit mit Trump auszeichnet. Gab ein bisschen Ärger. Ließ sich wieder löschen. Und außerdem: Das Video ist ein paar Jahre alt.

So etwas passiert ihm schon länger nicht mehr. Geboren wurde Lewis Hamilton am 7. Januar 1985 in Tewin, ein paar Kilometer nördlich von London. Sein Vater Anthony ist Nachfahre grenadischer Einwanderer, er hatte einen Job bei der Bahn und zeitweise drei Nebenjobs. Seine Mutter Carmen arbeitete als Sekretärin. Die Eltern ließen sich scheiden, als Hamilton zwei war, er wuchs fortan beim Vater auf. Als er im Vorjahr beim Rennen in Texas frühzeitig und zum sechsten Mal Weltmeister wurde, war seine gesamte Familie an der Strecke. Seine Eltern, sein Bruder, seine Stiefmutter, sein Stiefvater. Der Vater nahm an diesem Tag die Journalisten beiseite und erzählte ihnen, dass sich die Einstellung seines Sohnes nicht geändert habe, seit er acht war, zum Leben, zum Gewinnen. Dann fragte Anthony Hamilton: "Nicht schlecht für einen Jungen aus einer Sozialwohnung im Londoner Norden, oder?" Ganz schön gewachsen, der kleine Lewis.

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