Frankreich:Macron sollte die Proteste ernst nehmen

Black Lives Matter Protests In Paris Highlight Case Of Adama Traore

Demonstranten protestieren in Paris gegen Rassismus und Polizeigewalt.

(Foto: Getty Images)

Frankreichs Präsident begeht einen Fehler, wenn er die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt pauschal als "Chaos" abtut. Damit weigert er sich, eine Chance auf Versöhnung zu erkennen.

Kommentar von Nadia Pantel, Paris

Er müsse sich neu erfinden, erklärte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nun schon zum zweiten Mal. Das mag wie eine Floskel klingen, doch es beschreibt einen politischen Notstand. Der 42-Jährige begann seine Amtszeit als Optimist und Ermöglicher. Er versprach neue Arbeitsplätze, mehr Investitionen, beides begann er einzulösen.

Doch zwei Monate Corona-Stillstand lassen von diesem Aufschwung nichts übrig. Was bleibt, nun, da das öffentliche Leben wieder in Gang kommt, ist das Gefühl, in die schlimmste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit zu schlittern, und das mit einem Präsidenten an der Spitze, dessen Interesse bislang den Gewinnern galt, nicht den Verlierern.

Wie Macron sich das gesellschaftliche Zusammenleben vorstellt, bleibt vage. Sein berühmtes Mantra des "en même temps", des Ineinanderwebens von linken und rechten Positionen, lief in der Praxis oft auf ein "mal so, mal so" hinaus. Er stärkte einerseits individuelle Freiheiten, zum Beispiel in der Reproduktionsmedizin, andererseits schränkte er die Rechte von Migranten ein.

Doch was soll die Republik zusammenhalten, wie will er den sozialen Frieden sichern? "Wir können unsere Zukunft nicht im Chaos aufbauen", sagte er am Sonntag. Es war nur ein kleiner Exkurs, in dem er zu den Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus in Frankreich Stellung bezog. Doch mit wenigen Sätzen machte er klar, wer ihm mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2022 wirklich wichtig ist: Es sind die Alten und die Konservativen.

Frankreich steht kein Generationenkonflikt bevor

Man habe der Jugend durch die Ausgangsbeschränkungen viel abverlangt, erklärte Macron. Er meinte in erster Linie die Solidarität der Jungen, die kurzfristig auf Ausbildung und Ausgehen verzichteten, langfristig auf wirtschaftliche Sicherheit, um die Gesundheit der Alten zu schützen. Doch Umfragen zeigen, dass jungen Franzosen wenig wichtiger ist als ihre Familie. Sie mussten ihre Großeltern nicht schützen, sie wollten es. Frankreich steht kein Generationenkonflikt bevor, in dem sich die Jungen gegen die Alten wenden. Viel eher drohen Aufstände derjenigen, die nichts mehr vom Staat erwarten.

Gerade deshalb ist es falsch, dass Macron die Demonstrationen, die sich mit der amerikanischen Bewegung "Black Lives Matter" solidarisieren, am Sonntag in die Nähe von Fanatikern rückte. Der notwendige Kampf gegen Rassismus sei inakzeptabel, wenn er von "Separatisten" übernommen werde, sagte Macron, als sei dies bereits geschehen. Man werde "keine Namen aus der Geschichte auslöschen" und "keine Statuen abschrauben", so der Präsident. Damit gab er all denjenigen recht, die in den aktuellen Protesten einen Angriff auf Frankreichs Historie, ja auf die Republik sehen. Und er weigert sich, die Chance auf Versöhnung zu erkennen, die in diesen Protesten liegt.

Die Nachfahren der Einwanderer aus den Kolonien und junge Franzosen gehören zu den Gruppen in Frankreich, die für Politiker am schwersten zu erreichen sind. Nun gehen genau sie gemeinsam auf die Straße. Sie fordern, dass nichtweiße Franzosen genauso behandelt werden wie die Mehrheit. Das bezieht sich nicht nur auf rassistische Polizeikontrollen, sondern auch auf den Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt.

Es ist bezeichnend, dass Frankreichs Jugend sich eher mit einer Emanzipationsbewegung aus den USA identifizieren kann als mit den Märschen der Gewerkschaften, die vergangenen Winter durch die Städte zogen. Die alte Linke verteidigt diejenigen, die mit gesicherten Arbeitsverhältnissen groß geworden sind. Die jungen Franzosen zählen nicht dazu, noch weniger, wenn sie die Kinder von Einwanderern sind. Und so suchen sie sich ihre eigenen Kämpfe. Macron begeht einen Fehler, wenn er diese Politisierung, so wie am Sonntag, pauschal als "Chaos" abtut.

Zumal seine Amtszeit ganz anders begann. Emmanuel Macron ist Jahrgang 1977, der erste französische Präsident, der nach dem Algerien-Krieg geboren wurde. Macron sah darin seine Stärke. Er wollte sich den dunkelsten Kapiteln der Geschichte des Landes stellen, der Sklaverei, dem Kolonialismus, der Folter in Algerien. All den offenen Wunden, die nur heilen können, wenn man sie sichtbar macht. Macron hat Debatten über die Rückgabe geraubter Kunst nach Afrika angestoßen. Beim Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs weihte er auch ein Denkmal für die Soldaten aus den Kolonien ein, die für Frankreich ihr Leben ließen.

Die aktuellen Proteste ernst zu nehmen, könnte Teil dieser Versöhnungspolitik sein. Sie zu einer möglichen Bedrohung der Republik zu erklären, ist hingegen gefährlich. Es stärkt diejenigen, die den jungen Schwarzen und Muslimen in den Vorstädten erzählen, der Staat interessiere sich ohnehin nicht für sie. Und es klingt, als sei die Sorge um die Jugend nur leeres Gerede. Macrons jüngste Beteuerungen, dass niemand die Geschichte umschreiben dürfe, und dass die Polizei letztlich über Kritik erhaben sei, sind beruhigende Worte für Frankreichs Rentner.

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