Nachholfaktor:Hubertus Heil, der Schutzpatron der Rentner

Nachholfaktor: Beherrscht den kalten Verwaltungs-Jargon der Rentenpolitik: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.

Beherrscht den kalten Verwaltungs-Jargon der Rentenpolitik: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.

(Foto: AFP)

Olaf Scholz hatte einst einen klugen Ausgleich zwischen Rentnern und Beitragszahlern für Krisenfälle eingeführt. Sein Nachfolger Heil hat das ohne Not geändert - zu Lasten der Jüngeren.

Kommentar von Hendrik Munsberg

War die Corona-Krise ein Schwarzer Schwan, ein Ereignis also, das kein vernünftig denkender Mensch voraussehen konnte? Wie es ausschaut, wohl eher nicht. Warnungen, dass es zu einer schweren Pandemie kommen könnte, unter der die gesamte Menschheit zu leiden hätte, gab es jedenfalls. Microsoft-Gründer und Milliardär Bill Gates sieht sich deshalb rund um den Globus absurdesten Verschwörungstheorien ausgesetzt.

Einen Mann aber gibt es offenbar auch in Deutschland, der zumindest Schlimmeres geahnt haben muss. Und der sitzt mitten in der Bundeshauptstadt Berlin und trägt gerade die Bürde großer Regierungsverantwortung: Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales. Warum ausgerechnet er düstere Ahnungen gehabt haben soll? Wäre sonst zu erklären, dass der Sozialdemokrat 2018 - die Wirtschaft brummte damals und eine baldige Eintrübung war für niemanden zu erkennen - eine kleine, aber folgenreiche Korrektur am Rentensystem vornahm, für die es seinerzeit eigentlich keinen Anlass gab? Offiziell setzte Heil, wie von der Koalition gewünscht, eine "doppelte Haltelinie" für Rentenbeitragssatz und Rentenniveau durch. Doch als eine Art heimlichen Beifang schaltetet er auch den sogenannten Nachholfaktor in der gesetzlichen Rentenversicherung bis 2025 ab. Aber warum nur?

Den Nachholfaktor hatte 2009 der damalige SPD-Sozialminister Olaf Scholz in Anbetracht der Finanzkrise eingeführt - als gerechten Ausgleich für die ebenfalls von ihm ersonnene Rentengarantie. Letztere sollte dafür sorgen, dass Renten nicht gekürzt werden können, was sie eigentlich müssten, wenn die Löhne als Folge schwerer ökonomischer Krisen sinken. Als Gegengewicht führte Scholz aber den Nachholfaktor ein: Sobald sich die Wirtschaft erholt und die Löhne wieder steigen, sollten dann mögliche Rentenanhebungen nur noch halb so hoch ausfallen wie eigentlich vorgesehen - bis die abgewendete Rentenkürzung ausgeglichen ist.

Was Scholz damals schuf, klingt abschreckend technisch, entsprang aber politischer Weitsicht und Klugheit, jedenfalls solange man das Ziel verfolgt, die Generationengerechtigkeit zwischen Jung und Alt in der Rentenversicherung ernst zu nehmen. Suchte man ein Anwendungsbeispiel für Immanuel Kants kategorischen Imperativ in der Rentenpolitik, hier könnte man fündig werden.

Und wirklich entfaltete der von Scholz geschaffene Mechanismus bald seine Wirkung: 2010 gab es - wegen der Rentengarantie - eine Nullrunde für Rentner in Ost und West. Anschließend wirkte bis 2014 der dämpfende Nachholfaktor, am besten erkennbar im Jahr 2011, als es in beiden Teilen Deutschlands zunächst nur Mini-Rentenerhöhungen von 0,99 Prozent gab.

Festzuhalten bleibt jedenfalls diese Einsicht: Ohne den Nachholfaktor hätten die ökonomischen Folgen der Finanzkrise stärker die Beitragszahler getroffen und weniger die Rentner. Ohne Nachholfaktor gibt es offenkundig weniger Generationengerechtigkeit. Und das gilt auch jetzt in der Corona-Krise, die sich, wie es leider aussieht, zur ärgsten Rezession seit Jahrzehnten auswachsen könnte.

Rentenpolitik wird hinter einer Schutzmauer aus kaltem Verwaltungs-Jargon gemacht

Natürlich kennt auch SPD-Minister Hubertus Heil diese Fakten. Und natürlich sah er nicht Corona voraus. Doch er wusste nach der Finanzkrise, dass es aus heiterem Himmel zu einer heftigen Rezession kommen kann. Und deswegen wollte er offenbar auf Nummer sicher gehen und setzte den Nachholfaktor kurzerhand außer Kraft - als Schutzpatron der Rentner. Wie macht man das, damit es möglichst wenige mitbekommen? Man schreibt zwei kryptische Sätze ins Sozialgesetzbuch VI, Paragraf 255g: "Der Ausgleichsbedarf beträgt in der Zeit bis zum 30. Juni 2026 1,0000. Eine Berechnung des Ausgleichsbedarfs nach § 68a erfolgt in dieser Zeit nicht." Prompt hat man als für die Rentenpolitik zuständiger Minister die Gewissheit, dass niemand darauf stößt - und falls doch, dass es keiner kapiert. Rentenpolitik wird in Deutschland, obwohl sie Millionen Menschen hautnah betrifft, seit Jahrzehnten hinter einer Schutzmauer aus kaltem Verwaltungsjargon gemacht.

Heil kann heute so argumentieren: Durch die bis 2025 geltenden Haltelinien für Beitragssatz und Rentenniveau sind ja Beitragszahler und Rentner gleichermaßen geschützt. Doch die vielen Milliarden, die dafür nötig sind, werden aus dem Bundesetat fließen müssen - und treiben die Staatsverschuldung in immer größeren Schwindel erregende Höhen.

Bleibt nur noch eine Frage zum Schluss: Wer muss dafür dereinst aufkommen? Die Generation der Jüngeren.

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Als Teil der Rentenversicherung sorgte er für einen gerechten Ausgleich zwischen Rentnern und Beitragszahlern. 2018 wurde er von Arbeitsminister Hubertus Heil ausgesetzt.

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