Mord im Kleinen Tiergarten:Vorwurf: Staatsterrorismus

Ermittler des Georgier-Mords warten auf russische Kooperation

Beamte der Spurensicherung am Tatort im Kleinen Tiergarten in Berlin.

(Foto: Paul Zinken/dpa)

Der Generalbundesanwalt erhebt Anklage - und zeigt sich überzeugt: Der russische Staat hat den Mord an einem Tschetschenen aus Georgien in Auftrag gegeben. Außenminister Maas droht Russland mit "weiteren Maßnahmen".

Von Florian Flade, Georg Mascolo und Ronen Steinke

Vor mehr als 23 Jahren, der Kanzler hieß Helmut Kohl, wurde am Kammergericht in Berlin deutsche Rechtsgeschichte geschrieben. Ein Strafsenat urteilte, dass das iranische Regime für den fünf Jahre zuvor begangenen brutalen Mord an vier Oppositionellen im Restaurant "Mykonos" im Berliner Ortsteil Wilmersdorf verantwortlich gewesen sei. Ein Akt des Staatsterrorismus. Die deutsch-iranischen Beziehungen standen am Rande des Zusammenbruchs.

Jetzt steht am selben Gericht wieder ein Verfahren an, es geht wieder um einen Mord, begangen im Kleinen Tiergarten nahe dem Berliner Regierungsviertel. Das Opfer war Selimchan Changoschwili, ein Tschetschene mit georgischem Pass, er starb am 23. August 2019 durch Schüsse in den Hinterkopf. Russlands Präsident Putin hatte den ehemaligen Kaukasus-Kämpfer einen "blutrünstigen und brutalen Menschen" genannt, doch zu Moskaus Verärgerung schützten die Deutschen ihn als Asylbewerber. Der Generalbundesanwalt hat jetzt Anklage gegen den mutmaßlichen Mörder erhoben - aber auf der Anklagebank wird auch der russische Staat sitzen. Die Parallelen sind unübersehbar. Mancher in der Bundesregierung nennt das anstehende Verfahren ein "russisches Mykonos".

Nach monatelangen Ermittlungen ist sich der Generalbundesanwalt seiner Sache sicher: Der Auftrag für die Hinrichtung soll von russischen Regierungsstellen erteilt worden sein. Der mutmaßliche Auftragskiller, der inzwischen als Wadim Krasikow identifiziert wurde, soll von ihnen angeheuert worden sein. In einem Haftbefehl war noch die Rede davon, dass auch tschetschenische Stellen verantwortlich sein könnten. In der Anklage ist davon nun nicht mehr Rede. Obwohl der Täter schweigt, reichen den Karlsruher Ermittlern die Indizien. Alles weise nach Moskau, meinen sie.

Der Visumsantrag des Todesschützen mithilfe einer Firma, die offenbar allein aus einem Faxgerät bestand und an das russische Verteidigungsministerium angebunden war, gilt ihnen als Beweismittel Nummer eins dafür. Und auch die wundersame Verwandlung des Todesschützen - von einem mit russischem Haftbefehl gesuchten Kriminellen im Jahr 2013 in einen Mann mit neuer Identität und neuem russischen Pass im Jahr 2015 - spreche für eine steuernde Hand im russischen Staat. Geschrieben hat die Anklage in weiten Teilen der Karlsruher Bundesanwalt Ronald Georg, ein Veteran der Behörde. Als junger Staatsanwalt war er einer der Ankläger im Mykonos-Verfahren.

Zwischendurch gab es in Berlin immer wieder Gerüchte, die Ankläger würden aus politischen Gründen gebremst, die Bundesregierung fürchte um die deutsch-russischen Beziehungen. Tatsächlich finden sich hierfür keine Indizien. Bereits drei Tage nach dem Mord wurde in dem Referat von Bundesanwalt Georg ein Beobachtungsvorgang angelegt. Als sich die Indizien für einen staatlichen Hintergrund verdichteten, zog die Behörde das Verfahren aus Berlin schließlich an sich. Das Bundeskriminalamt und auch die deutschen Nachrichtendienste waren in das Ermittlungsverfahren "Tiergarten" eingebunden. Einen solchen Verdacht wollte man nicht leichtfertig erheben.

Jetzt richtet sich der Blick allein auf das Gericht, die unabhängige Justiz übernimmt die Regie. Und in der Bundesregierung sieht man es einerseits mit Stolz, dass Deutschland diesen Vorgang so hartnäckig rechtsstaatlich aufklärt, andererseits aber auch mit Sorge. Die Sorge rührt daher, dass sich ein solches Verfahren sehr lange hinziehen kann - und damit auch in der Zukunft eine Dynamik auslösen kann, die sich heute noch gar nicht übersehen lässt. Aufgrund der im Prozess zu Tage getretenen Erkenntnisse im Mykonos-Verfahren beantragte und erhielt der Generalbundesanwalt damals einen Haftbefehl gegen den damaligen iranischen Geheimdienstchef. Mit allen Mitteln hatte die Bundesregierung versucht dies zu verhindern, man warnte vor diplomatischen Verwicklungen und möglichen Vergeltungsschlägen auch gegen Deutsche. Doch die Justiz ließ sich nicht beirren.

Selten haben Strafrichter es so sehr in der Hand, außenpolitisch Fakten zu schaffen

Niemand kann sagen, ob sich die Geschichte wiederholt - aber was, wenn der mutmaßliche Auftragsmörder Krasikow im Prozess doch noch über seine Hintermänner aussagt? Wenn neue Erkenntnisse bekannt werden? Die Ermittler sind sicher, dass Krasikow in Berlin Helfer hatte, die die Ausspähung des Opfers übernahmen. Oder ihm die Pistole beschafften. Wohin werden die Spuren führen? In der Bundesregierung hofft man, dass Russland Grenzen aufgezeigt werden. Aber man will das so wichtige Verhältnis auch nicht über die Maßen oder gar irreparabel beschädigen.

Erste Konsequenzen gab es bereits. Im Dezember 2019 wies die Bundesregierung als Reaktion auf den Mord im Kleinen Tiergarten zwei russische Diplomaten aus. Es handelte sich um Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Vor wenigen Wochen dann folgte ein weiterer "Warnschuss" in Richtung Moskau. Der Generalbundesanwalt erwirkte einen Haftbefehl gegen einen russischen GRU-Spion, der als Teil einer Hacker-Einheit für den Cyberangriff auf das Netz des Bundestages im Frühjahr 2015 verantwortlich sein soll. Damals drangen die Hacker auch in die Computer im Abgeordnetenbüro der Kanzlerin ein. Merkel sprach von einem "ungeheuerlichen" Vorgang und von "harten Evidenzen" für eine Beteiligung des russischen Staates. Und nun klagt der Generalbundesanwalt sogar russischen Staatsterrorismus an. Bundesaußenminister Heiko Maas sagt nun, die Bundesregierung behalte sich zudem "weitere Maßnahmen in diesem Fall ausdrücklich vor".

Selten haben Strafrichter es so sehr in der Hand, außenpolitisch Fakten zu schaffen. Sehr frei werden sie entscheiden können, wie weit sie die Vorwürfe gegen Moskau verfolgen wollen. Theoretisch könnten sie den Prozess auch ganz knapp halten, das eigentliche Delikt, ein Mord, ist schnell beschrieben. Für die Tat gibt es Augenzeugen, auch DNA-Spuren an der Waffe, das dürfte genügen. Es liegt allein an den fünf Richterinnen und Richtern des Senats, wie weit sie darüber hinaus auch ins Politische vorstoßen wollen, um auch die Hintermänner auszuleuchten. Offiziell angeklagt sind diese nicht.

Zuletzt hat man sich da am Berliner Kammergericht überaus engagiert gezeigt. Als ein vietnamesischer Ex-Politiker mitten in Berlin gekidnappt wurde und Tage später als Häftling im vietnamesischen Fernsehen wieder auftauchte, da bekam die Berliner Justiz zwar nur einen äußerst untergeordneten Helfer dieser Tat zu fassen, ein kleines Rädchen im Getriebe. Aber der dritte Strafsenat unter der Richterin Regine Grieß legte ein 47 Seiten starkes Urteil vor, das weit über diesen Angeklagten hinausging. Es enthielt auch die Namen mitverantwortlicher vietnamesischen Diplomaten und selbst hoher Geheimdienstler.

Im Mykonos-Prozess in den 1990er Jahren standen am Ende sogar die Namen von Regierungsmitgliedern im Urteil, die angeblich verwickelt seien. Dem Vorsitzenden Richter im Mykonos-Verfahren jedenfalls hat es zumindest die Justiz gedankt. Als er im Oktober 2000 starb, würdigte ihn die damalige Kammergerichtspräsidentin mit den Worten: "Er war ein Richter, den wir alle bewunderten."

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