UN-Bericht:Globale Flüchtlingsnot wächst gewaltig

Arrival of a boat carrying refugees from north Africa. Lampedusa, immigrants at the port. Italian ship to transfer hund

Flüchtlinge erreichen von Nordafrika aus die italienische Insel Lampedusa.

(Foto: imago images/Milestone Media)

Niemals in seiner Geschichte habe die UN-Flüchtlingsbehörde weltweit mehr Vertriebene registriert, heißt es in einem Bericht. Das Coronavirus befeuert einen Negativtrend.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Mehr Menschen denn je sind vor Krieg und Elend auf der Flucht - aber nur die wenigsten Asylbewerber schaffen es derzeit nach Europa. 79,5 Millionen Menschen mussten nach Angaben den UN-Flüchtlingswerks UNHCR im vergangenen Jahr weltweit fliehen. Das entspricht einem Anstieg um fast neun Millionen Menschen im Vergleich zum Vorjahr.

Niemals in seiner 70-jährigen Geschichte habe die Flüchtlingsbehörde der Vereinten Nationen mehr Vertriebene registriert, heißt es in dem am Donnerstag veröffentlichten Weltflüchtlingsbericht "Global Trends". In scharfem Kontrast dazu steht der Negativrekord, den die europäische Asylbehörde Easo kürzlich zu vermelden hatte. Demnach ist wegen der Corona-Pandemie die Zahl der Asylanträge in der EU im April auf den niedrigsten Wert seit 2008 gesunken.

Die Europäische Union hat sich wegen Covid-19 gegen Drittländer abgeschottet, die EU-Außengrenzen sind für Asylbewerber nur noch schwer passierbar, auch wenn Geflüchtete von den Grenzschließungen formal ausgenommen sind. Selbst für besonders gefährdete Flüchtlingsgruppen hat Deutschland seine Umsiedlungsprogramme vorübergehend eingestellt.

Auf Anfrage teilte das Bundesinnministerium mit, man stehe mit allen relevanten Partnern in Kontakt, um die Aufnahmen von besonders schutzbedürftigen Personen "alsbald wie möglich wiederaufzunehmen". Wann das sein wird, blieb offen: Von Verfahren zu Verfahren könne die Entscheidung "zeitlich unterschiedlich ausfallen".

Unterdessen wächst im Rest der Welt die Flüchtlingsnot gewaltig. Nach dem Bericht, den das UN-Flüchtlingswerk kurz vor dem Weltflüchtlingstag am Samstag veröffentlichte, gab es zum 31. Dezember 2019 weltweit 29,6 Millionen Menschen, die in ein anderes Land geflohen waren. Dazu zählen 3,6 Millionen Venezolaner, die sich vor dem Chaos im eigenen Land in Nachbarstaaten und darüber hinaus retteten. 45,7 Millionen waren weltweit auf der Flucht im eigenen Land. Hier stieg die Zahl um 4,4 Millionen. Immer mehr Menschen steckten zudem im rechtlichen Niemandsland fest, weil über ihren Asylantrag nicht entschieden wurde. Im Vergleich zum Vorjahr ist ihre Zahl um 20 Prozent gewachsen, auf 4,2 Millionen Fälle.

"Die Zahlen zeigen die ganze Komplexität und Dramatik der Flüchtlingssituation weltweit, die in Europa oft nicht gesehen wird", sagte der Repräsentant des UNHCR in Deutschland, Frank Remus, der Süddeutschen Zeitung. Nicht einmal ein Zehntel der Menschen auf der Flucht hätten in Europa Schutz gefunden. Die allermeisten befänden sich in Staaten, die selbst mit großen Problemen kämpften. "80 Prozent aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen befinden sich in Regionen oder Ländern, die von akuter Ernährungsunsicherheit und ökonomischen Schwierigkeiten betroffen sind", sagte Remus. Zwar sei es eine Genugtuung", dass die Solidarität mit Flüchtlingen in Deutschland immer noch groß sei. Das UN-Flüchtlingshilfswerk hoffe aber auch auf Fortschritte bei der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems, "im Interesse der Flüchtlinge, aber auch im eigenen Interesse".

Auch für Flüchtlingsorganisationen ist das wachsende Leid schwer zu bewältigen. 79,5 Millionen Vertriebene, das sind fast dreimal so viele wie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Allein seit 2010 haben sich die Zahlen weltweit nahezu verdoppelt, von 41 auf 79,5 Millionen. Stellten Vertriebene einen eigenen Staat, wäre er der zweitgrößte der EU, gleich nach Deutschland, rechnete das UNHCR vor. Drei Viertel der Geflüchteten hofften, bald heimkehren zu können. Nur sei das eben immer seltener der Fall.

Während in den 1990er Jahren pro Jahr noch durchschnittlich 1,5 Millionen Menschen nach Hause zurückkehren konnten, sank die Zahl laut UNHCR in den vergangenen Jahren auf rund 390 000 Menschen. Mit anderen Worten: Vertreibung wird zum Dauerzustand. Sie ist oft auch nicht nur ein Nebeneffekt, sondern ein bewusst eingesetztes Instrument in politischen oder ethnischen Konflikten.

Filippo Grandi, Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, bezeichnete die Verstetigung der Recht- und Heimatlosigkeit als inakzeptables Phänomen. "Von den Betroffenen kann nicht erwartet werden, jahrelang in Ungewissheit zu leben, ohne die Chance auf eine Rückkehr und ohne Hoffnung auf eine Zukunft an ihrem Zufluchtsort." Nötig sei eine "grundlegend neue und positivere Haltung gegenüber allen, die fliehen" - und mehr Entschlossenheit, jahrelange Konflikte zu lösen.

Der starke Anstieg von 70,8 Millionen Geflüchteten auf 79,5 Millionen zwischen 2018 und 2019 ist laut UNHCR insbesondere den Binnenvertreibungen in der Demokratischen Republik Kongo und der Sahelzone zuzurechnen, aber auch den Bürgerkriegen in Jemen und in Syrien. Allein die Syrer machen ein Sechstel der weltweiten Flüchtlinge aus. Die Zahl der geflüchteten Minderjährigen wird allein auf 30 bis 34 Millionen geschätzt. Über 60-Jährige machen hingegen nur insgesamt vier Prozent aus. Hinter jedem Fall, so betonen die Verfasser des Berichts, stehe "die Trennung von geliebten Menschen und damit verbundenes Leid und Verzweiflung".

Auch für Deutschland wurden Zahlen vorgelegt, für die Zeit vor der Corona-Pandemie. Demnach stand die Bundesrepublik unter den Gastländern für Geflüchtete weltweit auf Platz fünf - hinter der Türkei, Kolumbien, Pakistan und dem Entwicklungsland Uganda. Die Zahl der Asylsuchenden sank in Deutschland zwischen 2018 und 2019 von 369 284 auf 309 262 Personen. Im April dieses Jahres dann, nach dem Corona-Lockdown, brachen die Flüchtlingszahlen regelrecht ein. In der Europäischen Union lagen sie nach der Europäischen Asylbehörde Easo um 87 Prozent unter denen des Vorjahres - der niedrigste Wert der vergangenen zwölf Jahre.

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