Russland:Putin fürchtet den Wunsch nach Wandel

Russland: Die Verfassungsreform würde Wladimir Putin jetzt sechs Amtszeiten erlauben. Jeden anderen Präsidenten beschränkt die Verfassung auf zwei Amtszeiten.

Die Verfassungsreform würde Wladimir Putin jetzt sechs Amtszeiten erlauben. Jeden anderen Präsidenten beschränkt die Verfassung auf zwei Amtszeiten.

(Foto: Aleksey Nikolskyi/AP)

Ob Abstimmung über die Verfassung oder Siegesparade: Wladimir Putin tut alles dafür, damit in Russland alles beim Alten bleibt - und er in Ruhe in die Geschichte eingehen kann.

Kommentar von Silke Bigalke, Moskau

Wladimir Putin weiß längst, wie seine Verfassungsabstimmung ausgehen wird, die er von Donnerstag an abhalten lässt. Beim ersten öffentlichen Aufritt nach wochenlanger Selbstisolation hat er es kürzlich allen verraten. Er sei sich sicher, sagte der Präsident, die "absolute Mehrheit" der Bürger werde die Verfassungsänderung unterstützen. Dann verlieh er Orden und schüttelte Hände. Ohne Mundschutz.

Fast alles an dieser Abstimmung ist offener als das Ergebnis, das am 1. Juli feststehen wird. Etwa die Frage, wie viele Russen teilnehmen und wie viele sich womöglich in den Wahllokalen infizieren werden. Die plötzlichen Lockerungen in Moskau haben politische Gründe, keine epidemiologischen. Der Präsident wollte die Abstimmung, und zwar jetzt. Die Gesundheit der Bevölkerung ist für ihn so zweitrangig wie die ehrliche Meinung der Mehrheit. Längst gilt: Je mehr Menschen sich in Russland nach Veränderungen sehnen, desto weniger Auswahl bekommen sie.

Nichts macht diesen Trend deutlicher als Putins Verfassungsreform, die ihm zwei weitere Amtszeiten ermöglicht. Die Abstimmung hätte der Präsident dafür gar nicht gebraucht. Doch ein Triumph an der Urne soll Zweifel an der Legitimität seines Projekts beseitigen und den Wählern sowie seinem engsten Kreis vor Augen führen, dass es in absehbarer Zeit keine Alternative zu ihm gibt.

Die Pandemie macht diese Machtdemonstration umso wichtiger. In den vergangenen Wochen musste sich der Präsident dem Virus beugen, die Abstimmung verschieben, sich auf seine Gouverneure verlassen. Dass er seine Pläne nun übereilt nachholt, zeigt auch seine Verunsicherung. Putin will zu seiner Normalität zurück, in der ihn niemand infrage stellt.

Unter dieser Prämisse können Wahlen nur zur Farce werden, erst recht in Zeiten der Pandemie. Oppositionelle stritten schon vorher darüber, ob man hingehen solle. Zum Wegbleiben aus Protest kommt jetzt das Wegbleiben aus Angst vor Ansteckung. Zudem erleichtern Mundschutzpflicht und Desinfektionspausen im Wahllokal, zu wenige Beobachter für die mehrtägige Abstimmung sowie die Möglichkeit, mancherorts online zu wählen, Manipulationen. Die Behörden wollen eine peinlich geringe Beteiligung vermeiden. In Moskau locken sie mit einer Lotterie und Millionen von Gewinnen zu den Urnen.

Der Präsident fürchtet den wachsenden Wunsch nach Wandel. Der Rücktritt der Regierung im Januar hat diesen nicht gestillt. Das Lewada-Zentrum fragt regelmäßig, welchen Politikern die Russen vertrauen, Mehrfachnennungen erwünscht. Zuletzt nannten nur 25 Prozent der Befragten Putin. Das ist weniger als bisher, reicht aber für Platz eins. Dahinter kommt der Verteidigungsminister - mit 14 Prozent. Der Präsident sorgt dafür, dass er keine Herausforderer hat, selbst auf lokaler Ebene werden unabhängige Oppositionelle ausgebremst. In Moskau löste das zuletzt heftige Proteste aus, die noch heftiger niedergeschlagen wurden.

Der Präsident ist dem russischen Alltag entrückt

Wenn die Menschen Unzufriedenheit äußern, reagiert Putin irritiert. Für Unmut im Land macht sein Umfeld gern böse Einflüsterer aus dem Ausland verantwortlich. Der Präsident ist dem russischen Alltag ohnehin so entrückt, dass er die wahre Stimmung vermutlich nicht kennt. Sie ist auch für alle anderen immer schwerer zu erspüren, je stärker die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien und Meinungsforscher unter Druck geraten.

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Die Siegesparade an diesem Mittwoch soll nun als Stimmungsaufheller wirken. Auch Wähler freuen sich über Siege, den Sieg im Zweiten Weltkrieg - und den Sieg über das Virus, den Putin indirekt erklärt hat. Er hatte schon vor dem Covid-19-Ausbruch in Russland geplant, die Abstimmung zeitlich mit Feierlichkeiten zum Siegestag zu verbinden. Die Parade ist eine Machtdemonstration des Oberbefehlshabers. Und je weniger Antworten der Kreml auf die Probleme im Land findet, desto lieber zieht er sich auf Erinnerungen an vergangene Erfolge zurück.

Die Verfassungsreform hilft dabei: Sie konserviert. Sie verewigt die Werte, die Putin für Russland ausgesucht hat. Sie stellt ihn allein auf einen entrückten Platz, an dem er darauf warten kann, in die Geschichte einzugehen. Jeden anderen Präsidenten beschränkt die veränderte Verfassung auf zwei Amtszeiten. Putin selbst erlaubt sie insgesamt sechs. Zwar ist noch nicht ausgemacht, dass er 2024 nochmals antritt. Der Präsident hat es aber mit einem "Schauen wir mal" nicht ausgeschlossen. Damit beendet er fürs Erste Spekulationen, wer ihm nachfolgen könnte.

Für die Russen gilt: Wer für die Reform stimmt, schafft sich als freier Wähler ein Stückchen selber ab. Wer auf Wandel hofft, sucht immer häufiger woanders danach. Mehr als die Hälfte der jungen Russen zwischen 18 und 24 Jahre denken übers Auswandern nach. Vielleicht liegt es an dieser Resignation, dass große Proteste gegen die Verfassungsreform ausblieben. Putin wird seine Mehrheit bekommen. Und alles bleibt beim Alten.

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