Hamburgs Trauma:Unaufsteigbar

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Nach dem erneut verpassten Aufstieg wird der Hamburger SV seinen Etat drastisch verringern müssen. Selbst den Spöttern gehen langsam die Witze aus.

Von Peter burghardt und Jörg Marwedel, Hamburg

Die Kneipe "Unabsteigbar" nahe dem Volksparkstadion trägt schon seit 2018 nicht mehr den geeigneten Namen, damals stieg der Hamburger Sportverein zum ersten Mal aus der Fußball-Bundesliga ab. Am Sonntag drängten besonders frustrierte Gäste darauf, das Lokal endlich in "Unaufsteigbar" umzubenennen, was der Wahrheit derzeit näher käme. Ein besonders griesgrämiger HSV-Anhänger hatte außerdem die etwas rustikale Idee, den Volkspark mit Scherben zu bedecken, über die dann die Profis laufen müssten. Das öffentliche Scherbengericht tagte da bereits.

Auf Twitter, Facebook und in den Zeitungen flogen dem HSV Kommentare von Spott und Entsetzen um die Ohren, obwohl das Potenzial an HSV-Witzen allmählich erschöpft ist. Die Hamburger Morgenpost dachte sich einen fiktiven Lexikoneintrag aus und setzte ihn auf die Titelseite. Darin war vom HSV als "früher ein ruhmreicher Fußballverein aus Hamburg" die Rede, "der zweimal den Europapokal gewann und sechsmal Deutscher Meister wurde" und seit 2018 ein so bemitleidenswertes Dasein in der 2. Bundesliga führe, dass selbst Heidenheim oder Sandhausen zu stark für ihn geworden seien. Mancher Anhänger des früher ruhmreichen Vereins ist sogar froh, dass dem HSV das Relegations-Derby erspart bleibt. "Da hätten wir zehn Stück bekommen", glaubt ein gedemütigter HSV-Freund.

Auszuschließen wäre beim HSV ja nichts. Es ging gar nicht anders, als erneut den tiefsten Punkt der Vereinsgeschichte auszurufen nach der 1:5-Niederlage gegen den SV Sandhausen. Der Sieger kam aus einer Kleinstadt mit 15 000 Einwohnern nach Hamburg (1,8 Millionen Einwohner, Welthafen, Elbphilharmonie) und belegt in der Abschlusstabelle der zweiten Liga Platz zehn. Selbst ein Unentschieden hätte dem HSV gereicht, um sich mal wieder mit den Bremern zu messen, weil der 1. FC Heidenheim 0:3 bei Arminia Bielefeld verlor.

Nicht einmal diese Vorlage konnte der HSV nutzen. Die Mannschaft hielt dem Druck erneut nicht stand, obwohl sie an 31 Spieltagen Erster, Zweiter oder Dritter gewesen war. Trainer Dieter Hecking fand, ihr habe am Sonntag erneut die "Galligkeit" gefehlt, das "Laufvermögen" und die Fähigkeit, "einfache Fehler zu vermeiden". Heckings HSV konnte nicht mal ein Durchschnittsteam in Liga zwei beherrschen. Nicht mal der Elfmeter, den Kapitän Aaron Hunt zum 1:2 (62.) mit demonstrativer Wucht in den Winkel jagte, weckte die merkwürdig schläfrigen Mitspieler.

Wie geht es jetzt weiter mit dem HSV, für den die Bundesliga gerade so weit entfernt zu sein scheint wie eine fremde Galaxie? Der frühere Nationalspieler Dennis Aogo erzählte am Sonntag von seiner ratlosen Ursachenforschung mit seinem einstigen Kollegen Heiko Westermann; beide hatten einen Teil des nun schon zehnjährigen Abwärtstrends als HSV-Profis begleitet. Man habe bei diesem Klub "schon jeden Stein umgedreht", so Aogo. Sven Mislintat, Sportdirektor von Aufsteigers Stuttgart, hatte schon vor dem Debakel Mitleid: "Wenn man in der zweiten Liga beim VfB oder beim HSV arbeitet, kann man nichts gewinnen, nur verlieren. Es ist gefühlt die Fortsetzung des Abstiegskampfes."

Das weiß nun auch Dieter Hecking, 55. Er ist der 14. HSV-Trainer binnen zehn Jahren. Manches würde dafür sprechen, mit ihm weiterzumachen, um endlich so etwas wie Kontinuität in diesen ruhelosen Klub zu bringen. Doch auch der erfahrene Hecking reagierte zuletzt auffällig hilflos. Die Nerven seiner Spieler bekam er nicht in den Griff, in vier Spielen der finalen Wochen verschwendeten sie sechs Punkte durch Gegentore in letzter Sekunde. Taktisch lag Hecking bisweilen ebenfalls daneben. Gegen Sandhausen bot er eine Dreier-Abwehrkette auf, mit Ewerton im Zentrum, dabei hatte der Brasilianer in dieser Saison nur fünfmal gespielt, war meist verletzt und ist entsprechend schlecht in Form. Die Korrektur erfolgte zur Pause.

In den nächsten Tagen wird Bilanz gezogen. Hecking meinte nach dem Desaster, man habe "als großes Ganzes angefangen" und sei als "großes Ganzes gescheitert", aber ob Aufsichtsratschef und Präsident Marcell Jansen das genauso sieht? Jansen will "nicht populistisch" reagieren, sagte er, als er sich als erster Hamburger vor die Kamera wagte. Bekommt der Vorstandsvorsitzende Jonas Boldt, der im Mai 2019 aus Leverkusen kam, mehr Zeit, um eine Wende einzuleiten? Nicht nur wegen Corona wird der Etat weiter drastisch verringert werden müssen. Der glorreiche HSV könnte mehr und mehr zu einem angepassten Zweitligisten werden.

Einige der auffälligsten Spieler wird er wohl verkaufen müssen. Tim Leibold, mit 19 Torvorlagen der Beste im Team und nach dem Schlusspfiff mit Tränen in den Augen, dürfte zum Aufsteiger VfB Stuttgart wechseln. Jeremy Dudziak, in vielen Spielen ein Aktivposten im Mittelfeld, darf den Klub für drei Millionen Euro verlassen. Auch Bakery Jatta, für den sich der Klub einsetzte, als Zweifel an seiner Identität laut geworden waren, was den HSV zusammenschweißte, könnte eine ordentliche Ablösesumme einbringen. Obwohl Jatta zuletzt nur ein Schatten jenes schlaksigen Stürmers war, der im Herbst die Abwehrreihen durcheinanderwirbelte.

Der vierte Verlust wäre Rick van Drongelen gewesen, der im Alter von 21 Jahren zum zweiten Kapitän aufstieg. Doch dem Verteidiger riss gegen Sandhausen das Kreuzband. Obendrein könnte Hauptsponsor Emirates von einem Kündigungsrecht Gebrauch machen. Und wird es sich der zunehmend lustlose Investor Klaus-Michael Kühne noch einmal Geld kosten lassen, dass das Volksparkstadion weiterhin Volksparkstadion heißt, anstatt einen Firmennamen übergestülpt zu bekommen? An Kuriositäten in dieser Arena mangelt es weiterhin nicht. Eine absurde Pointe setzte Sandhausens Dennis Diekmeier, dem in seinen acht Jahren beim HSV nie ein Tor gelungen war. Er setzte mit dem zweiten Treffer seiner Profikarriere zum 5:1 den Schlusspunkt. Er traf in den Hamburger Torwinkel. In letzter Sekunde.

© SZ vom 30.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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