Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach:Wie die Polizei Pädokriminelle aufspürt

Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach

Im Fall Bergisch Gladbach sind die Ermittler auf Spuren gestoßen, die auch zu einem Verdächtigen in Alsdorf bei Aachen führten.

(Foto: Dagmar Meyer-Roeger/picture alliance/dpa)

Für Nordrhein-Westfalens Polizei hat der Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach dieselbe Dringlichkeit wie die Terrorbekämpfung. Ein Treffen mit dem Leiter der Ermittlungen.

Von Jana Stegemann, Köln

Bisher hatte Michael Esser beruflich mit Terror zu tun. Seine Fälle zum Beispiel: im Juni 2018 hochgiftiges Rizin in einem Wohnhaus in Köln-Chorweiler, im Oktober 2018 eine Geiselnahme inklusive Brandbombenanschlag im Kölner Hauptbahnhof. Als Leiter des Staatsschutzes des größten Polizeipräsidiums in Nordrhein-Westfalen führte der 52-jährige Kriminaldirektor beide Einsätze mit Hunderten Polizistinnen und Polizisten. Es ging um Minuten, das Leben Hunderter Menschen war in Gefahr.

Auch dieses Mal geht es wieder um alles, die Zeit drängt. Doch nun verstecken sich die Angreifer nicht mit Kriegswaffen in Wohnungen oder werfen Sprengsätze auf Bahnhofsrestaurants. Die Gefahr verbirgt sich hinter anonymen Benutzernamen in Foren und Chatgruppen. Die Täter haben keine Waffen, sondern Smartphones. Es geht um schwere sexualisierte Gewalt an Babys und Kindern im bundesweiten Komplex Bergisch Gladbach.

Die Dringlichkeit ist in diesen Fällen jetzt dieselbe wie bei Terror. Das ist neu in der Geschichte der deutschen Polizei. Endlich, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU), er hat es so angewiesen. Wichtige Beweismittel können nun zum Beispiel mit dem Polizeihubschrauber von Köln nach Hannover geflogen werden.

60-Stunden-Wochen

Wegen dieser neuen Prioritätensetzung in der Polizeiarbeit in NRW leitet Terror-Experte Esser die Besondere Aufbauorganisation der Polizei (BAO) "Berg", in der zu Spitzenzeiten im vergangenen November 350 Polizistinnen und Polizisten im Schichtdienst rund um die Uhr ermittelten. Eine BAO von dieser Größe hat es in Deutschland noch nie gegeben, nicht mal nach der Kölner Silversternacht. Aktuell sind es noch 130 Männer und Frauen. "Wir mussten auch irgendwann zur Normalität zurück, also von der 60- auf die 40-Stunden Woche. Sonst wären noch mehr Leute krank geworden", sagt Esser, der auch stellvertretender Chef der Kölner Kriminalpolizei ist.

Am Montagmorgen verkündete Nordrhein-Westfalens Justizminister Peter Biesenbach (CDU) einen neuen abstoßenden Superlativ in dem Fall, der von Beginn an alle bisher bekannten Dimensionen in Deutschland sprengte: Es gebe nun 30 000 Spuren, die zu unbekannten Tätern im In- und Ausland führen könnten. Ein weltumspannendes Netzwerk, dessen einziges Ziel die schwere sexualisierte Gewalt an Kindern und der Tausch von Bildern und Videos ist, auf denen die Gewalt zu sehen ist.

30 000 Spuren bedeuten aber nicht 30 000 Tatverdächtige oder 30 000 IP-Adressen. Einerseits weil ein Verdächtiger viele verschiedene Benutzernamen verwenden kann. Andererseits weil als "Spur" in dem Fall Folgendes gilt: jeglicher Hinweis auf "mögliche Geschädigte, Tatverdächtige und/oder Tatorte", mehr könne man aus "ermittlungstaktischen Gründen" dazu gerade leider nicht sagen.

Logistischer Kraftakt

"Bei großen Terrorlagen muss es schnell gehen. Da steht Gefahrenabwehr vor Strafverfolgung. Die Erfahrungen, die wir bei Terror-Bedrohungslagen gemacht haben, wenden wir jetzt auf diesen Fall an. Wir haben hier extreme Gefahren für Kinder, die missbraucht werden könnten", sagte Esser bei einem Treffen in Köln Anfang Juni. Da wusste er schon von den 30 000 Spuren, darüber sprechen durfte er damals nicht. Jetzt sagt er: "Wir rechnen mit weitaus mehr Hinweisen und Spuren, die noch hinzukommen werden."

Esser sagt "gibbet doch nich" statt "gibt es doch nicht", sein Ruhrgebietszungenschlag macht ihn nahbar. Seit dem 30. Oktober leitet er die BAO. In wenigen Tagen baute er damals mit einem Team von 35 Terror- und Amok-Experten, aber auch Technikern, Logistikern und Seelsorgern, die "ständiger Stab" genannt werden, die Ermittlungskommission im Polizeipräsidium Köln auf. Ein logistischer Kraftakt, vor allem, weil auch Ermittlerteams aller 16 Kriminalhauptstellen in NRW beteiligt sind. Mit diesen finden morgens und abends virtuelle Einsatzbesprechungen statt. Jeden Tag bewertet der Stab um Esser die bundesweite Lage neu, hält auch den Kontakt zu Ermittlern in anderen Bundesländern. Wichtig ist ihm, dass das Wissen über die Szene nicht zersplittert, dass keine Doppelermittlungen stattfinden, dass alle immer das große Ganze im Blick haben: Kinder retten. Bisher konnten sie mehr als 40 Opfer identifizieren.

Mehr als 70 Tatverdächtige sind bereits ermittelt, zwei Urteile gefällt, Anklagen werden im Akkord geschrieben. Bald soll auch der Prozess gegen Jörg L. aus Bergisch Gladbach vor dem Landgericht Köln beginnen. Durch seine Festnahme konnte der Fall überhaupt erst aufgedeckt werden. Er ist, wenn man so will, ein Schlüssel-Tatverdächtiger in dem Komplex. Die Polizei in Kassel hatte über das Bundeskriminalamt und die Generalstaatsanwaltschaft aus den USA und Kanada Hinweise auf verdächtige IP-Adressen und einen Chat bekommen. Dort fiel den Ermittlern auch der heute 43-jährige Jörg L. auf, weil er Dateien von Missbrauchshandlungen an seiner zweijährigen Tochter tauschte. So gelangte sein Verfahren dann aus Hessen zur Kreispolizei nach Bergisch Gladbach.

Dann fuhr Familienvater Jörg L. in den Urlaub. Weil die Ermittler wissen, dass die wichtigsten Beweise meist auf dem Handy der Verdächtigen zu finden sind, warteten sie mit der Hausdurchsuchung, bis L. zurückkehrte. Angesichts der Datenmengen und Chatverläufe, die bei ihm gefunden wurden, war schnell die Dimension klar.

Das ist neun Monate her. Noch heute arbeiten und essen die Ermittler auch räumlich abgeschottet in dem weitläufigen Gebäude in Köln-Kalk, "damit sie sich in Ruhe über den Fall unterhalten können". Dazu gehöre auch, dass seine Mitarbeiter einen Ruheraum bekamen, dass sich ein Polizeiseelsorger mit an den Mittagstisch setzt.

Kann man den Fall jemals ausermitteln?

"Es sind auch Leute krank geworden, die nur die Berichte gelesen haben. Das kann dich auch noch umhauen, wenn du der Fünfte in der Kette bist", sagte Esser. Selbst erfahrene Ermittler seien entsetzt von der Brutalität, den Chatverläufen und dem Ausmaß des Komplexes.

Wie kam die BAO auf die 30 000 Spuren? Alle Chatverläufe müssen von Ermittlern gesichtet werden. "Die Ermittlungsarbeit in den Chats ist wie ein Puzzlespiel: Sie kriegen immer kleine Teile zusammen, den Rand des Puzzles haben sie relativ schnell. Aber um die letzte Identifizierung hinzubekommen, dazu gehört viel Akribie." Ein Ermittlungsansatz war ein Urlaubsbild, auf dem ein markanter Kirchturm zu sehen ist. "Da haben die Kollegen alle Polizeidienststellen im süddeutschen Raum angeschrieben und gefragt, ob jemand den Ort kennt. Das ist enorm viel Arbeit."

Seit Bekanntwerden des Missbrauchsfalls Lügde im Januar 2019 hat Reul als erster und bisher einziger Innenminister Deutschlands die Bekämpfung von Kinderpornografie und Kindesmissbrauch ganz oben auf die Agenda der Landespolizei gesetzt. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat alle deutschen Ministerpräsidenten am Dienstag aufgefordert, das Thema Missbrauch jetzt zur Chefsache zu machen. Das sei eine nationale Daueraufgabe.

Bis 2021 wird NRW 32,5 Millionen Euro in neue Auswertetechnik investieren, es gibt ein eigenes Referat im Ministerium zu diesem Thema, das Personal für diese Delikte wurde vervierfacht. Doch seitdem die Polizei in NRW mehr sucht, findet sie aber auch mehr. So viel, dass die Experten beim Landeskriminalamt mit der Auswertung der "Datengebirge", so Reul, kaum hinterherkommen. Der Minister kann dem Anstieg bei den ermittelten Fällen sogar etwas Positives abgewinnen: "Das Gute ist. Jetzt reden wir darüber. Lange Zeit waren Missbrauch und Kinderpornografie ein Tabuthema."

Ob der Fall Bergisch Gladbach jemals ausermittelt ist? "Haben Sie 'ne Glaskugel? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich kommt meine Pensionierung früher", sagt Esser. Zehn Jahre hat er noch bis zum Ruhestand.

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