Posthumer Bau von Oscar Niemeyer:Planet Moderne

Kurz vor seinem Tod 2012 hat der brasilianische Jahrhundertarchitekt Oscar Niemeyer ein spektakuläres Restaurant in Leipzig entworfen. Nun wird dieses rundeste aller seiner Bauwerke eröffnet.

Von Peter Richter

Dass es in Leipzig ab sofort eine Straße gibt, die nach Oscar Niemeyer benannt ist, und an dieser Straße einen Bau, den der brasilianische Architekt in seinem Büro an der Copacabana als eines seiner letzten Projekte noch entworfen hat, bevor er 2012 im Alter von 104 Jahren verstarb: Das hat wesentlich mit einem Brief zu tun, den Ludwig Koehne zuvor aus Leipzig nach Rio de Janeiro geschickt hatte.

Er stellte sich als Geschäftsführer der Kirow Ardelt GmbH vor, eines Herstellers von Straßenbahnen und Lastkranen, und als Fan von Niemeyers Architektur. Bei der Lieferung einer Krananlage nach Rio habe er sich ein paar Tage freigenommen, um sich die berühmten Bauten aus erster Hand anzusehen. Dann kam er auf den Koch seiner Werkskantine zu sprechen, der "wie jeder künstlerisch veranlagte Mensch" nach Höherem strebe, nämlich einem zusätzlichen Raum "für feine Küche und kleine Feste". Intim solle er sein, gleichzeitig einen großzügigen Charakter haben.

Koehne habe das Dach seines Kantinengebäudes dafür im Blick, die vordere Gebäudeecke, um genau zu sein. "Der Panoramablick, eine kurvige Gebäudeform", schrieb er lockend: "Ihre Architektur passt einfach zu gut für diese Bauaufgabe." Und, falls das noch nicht reichen sollte: "Als Kranbaubetrieb reizt uns zudem auch Ihr Ansatz, in Fragen der Statik zuweilen an die Grenzen des Machbaren zu gehen." Der Ball musste von Niemeyer nur noch zurückgespielt werden. Genau das geschah auch - und zwar eben als Ball.

Der kleine, nur drei Millionen Euro teure Bau in Leipzig-Plagwitz ist nicht der einzige, der nach dem Tod des Meisters unter Aufsicht seines Büros posthum noch fertiggestellt wurde und wird, aber er ist selbst im gewaltigen Werk dieses Jahrhundertarchitekten besonders phänomenal.

Denn eigentlich war Niemeyer zwar wesentlich dafür bekannt, die kühle und kistenförmige Moderne der Bauhaus-Tradition mit heiteren, von Sonne, Samba, Bergen und Strandschönheiten inspirierten Schwüngen aufgetaut und tropikalisiert zu haben, bis Gralshüter der Geradlinigkeit wie Max Bill erbittert über solche vermeintlichen Frivolitäten ihre strengen Häupter schüttelten. Aber dermaßen konsequent zur Kugel hatten sich seine Kurven noch nie vollendet.

Niemeyer Sphere Leipzig

Fließender Tropen-Beton vermählt sich mit gläsernen Buckminster-Fuller-Dreiecken.

(Foto: Margret Hoppe)

Gebäude, die mit ihrer Form das beschreiben, was die Mathematiker eine Sphäre nennen, beschäftigen die Fantasie der Architekten schon so lange, dass sich eine Traditionslinie ergibt, die vom Innenraum des Pantheons über Boullées berühmten Kenotaphen für Newton bis hin zu den vielen rührenden Versuchen im 20. Jahrhundert reichte, Kugelhäuser als für ein von der Rechtwinkligkeit befreites Wohnen zu propagieren.

Die Gründe für diese Faszination reichen von dem Umstand, dass das überwölbende Universum schon als Kugel gedacht wurde, als die Erde noch als Scheibe galt, bis zu der simplen Tatsache, dass sich in dieser Form das größte Raumvolumen mit der geringsten Wandfläche umspannen lässt.

Alles was dazu sonst noch an kulturellen und philosophischen Implikationen zu bedenken wäre, hat Peter Sloterdijk auf den ungefähr 3000 Seiten seiner "Sphären"-Trilogie ausgemessen - und gleichzeitig steckt all das auch in jeder gebauten Kugel, die man von außen als Globus betrachten und von innen als Blase begehen kann.

Mit der Niemeyer-Sphere, wie der Leipziger Bau genannt wird, kehrt diese Bauform nun in eine Region zurück, wo zwei der frühesten realisierten Vorläufer dafür entstanden waren. Auf der einen Seite, im nahegelegenen Dresden, war Ende der Zwanzigerjahre das erste echte Kugelhaus der Welt entstanden, ein Stahlgerüstbau von Peter Birkenholz, der Räume für Ausstellungsflächen und Gastronomie enthielt, von den Nazis allerdings als "undeutsch" beschimpft und schließlich abgerissen wurde.

Auf der anderen Seite, etwa gleich weit von Leipzig entfernt, wurde ein paar Jahre vorher für das Jenaer Planetarium eine Kuppel errichtet, die bereits sehr den Gebilden ähnelte, für die der amerikanische Ingenieurarchitekt Buckminster Fuller später den Begriff "geodesic dome" prägen sollte: Geodätisch waren diese Kuppeln insofern, als sie die Oberfläche, wie bei der klassischen Geodäsie, also der Erdkugelvermessung, technisch in Dreiecke unterteilt wurden, aus denen sich wiederum Gitterschalen konstruieren ließen, die stabil genug waren, um sich selbst zu tragen.

Niemeyer Sphere Leipzig

Blick in die Glaskuppel während des Baus. Die Scheiben lassen sich elektronisch verdunkeln.

(Foto: Margret Hoppe)

Sie waren außerdem leicht genug, um von einer bestimmten Größe an zum Schweben gebracht zu werden. Zu diesen fliegenden Kugelstädten ist es bis heute nicht gekommen. Auch die Komplettüberkuppelung von Midtown-Manhattan mit einer aufgrund ihrer Höhe letztlich unsichtbaren geodätischen Kuppel, die Regen, Kälte und im Zweifel auch atomare Strahlen abhalten sollte, blieb eine Planerfantasie, die zuletzt von den Machern der Zeichentrickserie "The Simpsons" ins Dystopische verkehrt wurde (dort hält die Kuppel alles, was giftig ist in der Stadt und schirmt so die ausgekuppelte Umwelt ab).

Durch die elektronisch verdunkelten Scheiben sieht die Sonne aus wie der Mond

Es ist aber kein Wunder, dass geodätische Kuppeln im kleineren Maßstab immerhin zu einer der beliebtesten Bauformen in amerikanischen Hippie-Kommunen wurden, was unter anderem mit der Hierarchiefreiheit der Innenräume zu tun hatte.

In Niemeyers Kuppel für Leipzig klingt auch all dies an, denn wie bei den beiden Yin-und-Yang-artigen Formen, aus denen ein Tennisball zusammengefügt ist, greifen hier Kuppelteile aus klassisch geweißtem Niemeyer-Beton und solche aus geodätischen Buckminster-Fuller-Dreiecken mit Glas ineinander: Es ist ein überraschendes Gipfeltreffen eines süd- und eines nordamerikanischen Räumebiegers auf dem Boden von Leipzig-Plagwitz. Beziehungsweise eben gerade nicht auf dem Boden: Der Ball steckt schließlich wie aufgespießt auf der oberen Gebäudeecke des Altbaubestands. So wirkt es jedenfalls. Erst bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es in Wahrheit ein eigenständiger Turm ist, an den Altbau aus statischen Gründen nur angelehnt, der Unterbau in ziegelrot eingefärbtem Beton.

Geht man nun kurz vor der Eröffnung mit dem Bauherrn Ludwig Koehne und dem Koch Tibor Herzigkeit durch das Ensemble, ergeben sich verschiedene Wege. Da ist zum einen der Weg des Essens, das ihren Plänen zufolge in Zukunft auch aus einer angrenzenden Halle kommen soll, in der im Moment noch Straßenbahnen und Kranteile lagern: Auf 30 mal 130 Metern soll hier ein überdachter Gemüsegarten entstehen. Da das Konzept des Kochs Herzigkeit aber nur bei den Zutaten auf strikte Regionalität ausgerichtet ist, bei den Rezepten hingegen auf Internationalität, wird es künftig am industriellen Leipziger Stadtrand auch darum gehen, schwarze Bohnen für eine ordentliche Feijoada zu erzeugen. Denn zumindest ein brasilianisches Gericht wollen sie ständig auf der Karte haben in dem neuen Restaurant, das den Namen "Céu" trägt, was auf Deutsch "Himmel" heißt.

Niemeyer Sphere Leipzig

Eine der legendären Niemeyer-Zeichnungen an der Bar.

(Foto: Margret Hoppe)

Ansonsten will Herzigkeit unter der Kuppel vor allem "Bowls" anbieten, was natürlich auch sehr ortsangemessen ist, also: leichte Schalen mit allerlei Dingen aus der Leipziger Erde. Während diese Gerichte über ein erstaunlich komplexes System von Fahrstühlen aus der Kantinenküche und quer durch eine offene Showküche im ersten Stock in die Kugel transportiert werden, kommen die Gäste entweder über ein System von innen wie außen liegenden Treppenrampen hinauf - oder einfach mit dem Fahrstuhl.

Der zweigeteilte Innenraum der Kugel birgt unten eine kleine Bar, wo sich mit Blick durch die Glasdreiecke auf die Niemeyer-Straße beobachten lässt, wer als Nächstes eintrifft. Dann geht es mit dem Glas in der Hand über eine geschwungene Treppe nach oben, wo die Tische stehen und schließlich eine gewölbte Schiebetür, als wäre es das Haus eines James-Bond-Schurken, auf die Dachterrasse führt. Man schaut dort tatsächlich wie durch eine Sonnenbrille in den Himmel - denn der helle Ball, den man da über sich sieht, sieht durch die geschwärzten Scheiben zwar aus wie der Mond, er ist es aber nicht.

Diese Beschattung der Gläser, elektrisch steuerbar, war die große technische Herausforderung bei der Sache, denn ohne diese würden die Leute, die eigentlich zum Essen hier hochkommen sollen, unter der Glaskuppel selber zum Bratgut werden.

Wenn das Ganze an diesem Freitag nun eingeweiht wird, wird man vielleicht zu dem Schluss kommen, dass Leipzig zwar zehntausend Kilometer von Rio de Janeiro entfernt liegen mag - aber die Wolken über der Leipziger Ebene fast genauso spektakulär wie dort aussehen können, wenn man sie durch so ein Prisma betrachtet.

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