Kommentar:Wie konnte das passieren?

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Illustration: Bernd Schifferdecker

Nein, nicht die Marktwitschaft ist an der Misere Schuld. Dieses System hat die Welt über die Jahrzehnte besser gemacht. Und doch ist es wichtig, die Fehler, die passiert sind, jetzt genau zu analysieren.

Von Marc Beise

Es ist ja nicht so, dass es keine Anzeichen gab. Über die Firma Wirecard ist viel geredet worden, seit Jahren schon. Über ihre Anfänge im Schmuddelmilieu. Über den schwer zu durchschauenden Milliardenkonzern. Über mögliche Unregelmäßigkeiten. "Die haben Dreck am Stecken", sagten die einen, und andere: "Die sind zu schnell gewachsen, die blicken selbst nicht mehr durch." Dennoch: Einen derart gigantischen Betrug, wie er sich jetzt abzeichnet, hätte in Deutschland kaum jemand für möglich gehalten. Nicht die Wirtschaftsprüfer und Aufseher, nicht die Politiker, sicher nicht die anständigen Mitarbeiter, und auch nicht die Journalisten, obwohl einige Wirecard seit Monaten hart auf der Spur waren.

Hättet Ihr mal besser hingeguckt, hört man jetzt, und: Wie konnte das passieren? Wer ganz groß einsteigen will, stellt die Systemfrage, die nach der Herrschaft des Geldes im Kapitalismus oder gar die nach der Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft, in der jeder seinen Vorteil suchen soll, was am Ende dem großen Ganzen dient. Wenn das aber immer wieder einige gewissenlos ausreizen können - ist dann nicht das System diskreditiert, 90 Jahre nach der härtesten aller rhetorischen, der Brecht'schen Frage: Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? (Wirecard ist, wie passend, unter anderem auch eine Bank.) Sind alle - Politik, Behörden, Medien - willfährige Gefangene des Systems?

Nein, die schlüssigeren Argumente haben immer noch diejenigen, die kein besseres Prinzip sehen als das der Marktwirtschaft, samt Kapital und Börse. Dieses System hat die Welt über die Jahrzehnte besser gemacht, es hat technischen Fortschritt ermöglicht, Hunger gelindert und soziale Errungenschaften finanziert, und besonders gut hat es dort funktioniert, wo die Wirtschaftsordnung einen maßvollen gesetzlichen Rahmen bekommen hat und einen sozialen Auftrag: in Deutschland. Diese Marktwirtschaft ist, bei allen Fehlern, der kongeniale Begleiter der politischen Freiheit. Der Gegenentwurf einer staatlich gesteuerten Wirtschaft hat nie funktioniert, und ob die Volksrepublik China im 21. Jahrhundert das Gegenteil lehrt, ist sehr die Frage.

Aber ausgerechnet in Deutschland hat jetzt Wirecard das System desavouiert, und das darf nicht mit einem Achselzucken quittiert werden nach dem Motto: Kommt halt vor. Vielmehr gilt es nun genau zu ergründen, warum der große Wirecard-Betrug so weit getragen hat, ehe er - immerhin - aufgedeckt werden konnte. Auch bei den Zockereien der Banken, die zur Finanzkrise 2008 führten, wurde nachträglich diese Frage gestellt, und eine plausible Antwort lautete damals: Behörden, Politik und Öffentlichkeit haben angesichts eines komplizierten, aber zunächst erfolgreichen Geschäftsmodells nicht alles verstanden und deshalb nicht genau genug hingesehen - wird schon gut gehen. Ging aber nicht gut, und genau dieses Muster wiederholt sich nun.

Dass die Wirtschaftsprüfer über Jahre Bilanzen durchwinkten, dass die Finanzaufsicht sich zurückhielt, dass die sogenannte Bilanzpolizei mit nur kleinstem Aufwand prüfte, all das ist nicht zu entschuldigen, wohl aber zu erklären: damit, dass man das Geschäftsmodell nur erahnte und sich potenzierte kriminelle Energie nicht vorstellen mochte.

Nun kommt es darauf an, die Fehler sehr genau zu analysieren. Der allgemeine Ruf nach mehr Regulierung ist wohlfeil. Es gibt davon bereits jede Menge, gerade im Finanzsektor - nur offenbar die falsche. Wenn es gelingt, das zu korrigieren und konkrete Verbesserungen der Finanzaufsicht, der Wirtschaftsprüfung und der Unternehmenskontrolle insgesamt zu erreichen, dann kann die Marktwirtschaft die Scharte auswetzen und am Ende stärker sein als zuvor.

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