Europäische Union:"Das hat eine politische Dimension jenseits der Zahlen"

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Wie viel Geld aus dem geplanten EU-Wiederaufbaufonds wird nach Italien fließen? Angela Merkel und Guiseppe Conte bei ihrem Treffen auf Schloss Meseberg. (Foto: Getty Images)

Beim Treffen mit dem italienischen Premier Conte fordert Kanzlerin Merkel, der EU-Wiederaufbaufonds müsse etwas "Wuchtiges" haben. Es geht um nichts weniger als die Frage, wie Nord und Süd wieder zusammenfinden.

Von Cerstin Gammelin, Meseberg

Ist das Angela Merkel, die zurückhaltende Kanzlerin, die da vorne Worte sagt wie "besonders" und "einzigartig"? Von "bewundernswürdiger Geduld" spricht und über berührende Videos, in denen Italiener gesungen hätten vom Balkon aus. Neben ihr der Premierminister Giuseppe Conte. Er fordert Koordination und Regeln und warnt, ließe man diese Krise einfach laufen, "hätten wir in kürzester Zeit die Zerstückelung des Binnenmarktes". Es ist Montagabend auf Schloss Meseberg, dem Gästehaus der Bundesregierung. Merkel und Conte bereiten die schwierigsten Verhandlungen vor, die Europa seit Jahren gesehen hat.

Ab Freitag unternehmen 27 Staats- und Regierungschefs auf einem Sondertreffen in Brüssel den Versuch, einen 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds für die Nach-Corona-Zeit und einen siebenjährigen Finanzrahmen für die EU zu verabschieden. Noch nie wurde in der Gemeinschaft so viel Geld bewegt wie jetzt geplant ist. Noch nie hat die EU in großem Stil dazu Schulden aufgenommen, die als Zuschüsse ausgereicht werden sollen. "Ich weiß nicht, ob ein Treffen reicht. Ich weiß nicht, ob wir uns ein zweites Mal treffen müssen vor dem Ablauf des Sommers", sagt die Kanzlerin, der eine besondere Rolle zukommt. Als amtierende Ratspräsidentin muss sie Brücken bauen in alle 26 Länder - und auch nach Deutschland hinein.

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Die direkte Ansprache nach innen ist, neben dem Rollentausch am Anfang des gemeinsamen Auftritts von Merkel und Conte, eine weitere Überraschung. Die Szene erinnert an jene denkwürdige Ansprache von Conte im deutschen Fernsehen, als er an die Solidarität appellierte. Merkel erinnert die Bürger an das ureigene Interesse Deutschlands am funktionierenden Binnenmarkt. Das Land würde an Kraft verlieren, wenn Wertschöpfungsketten unterbrochen würden. Dass sie Conte auf Schloss Meseberg eingeladen hat, ist auch ein Zeichen der Wertschätzung. Vor Conte war nur Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron da.

Wer soll das Geld ausgeben und kontrollieren?

Im Februar, sagt Merkel, seien die 27 Chefs gescheitert bei dem Versuch, den siebenjährigen Haushalt aufzustellen. "Jetzt ist es noch komplizierter." Deutschland und Italien seien sich einig "in der Grundstruktur" des Wiederaufbaufonds. Und auch, dass die Gelder an die Haushaltsempfehlungen gekoppelt werden, die jedes Jahr aus Brüssel versendet werden. Strittig ist dagegen noch, wer das Geld ausgibt und kontrolliert. Die Mitgliedsstaaten? Die EU-Kommission?

Bisher ist geplant, dass aus einem schuldenfinanzierten EU-Wiederaufbaufonds 500 Milliarden Euro an Zuschüssen und 250 Milliarden Euro an Krediten ausgereicht werden können. Merkel hält Änderungen an diesem Verhältnis für möglich; aber nicht, dass es sich umkehren könnte. "Was wir machen, muss etwas Wuchtiges sein, es darf nicht verzwergt werden", sagt sie. "Das hat eine politische Dimension jenseits der Zahlen."

Der Streit unter den Mitgliedsstaaten dreht sich darum, wie Europa als Gemeinschaft gut aus der Corona-Krise kommt. Weil der Lockdown in Italien, Spanien und Frankreich strikter war als der in Deutschland, wird der wirtschaftliche Einbruch dort heftiger sein. Deutschland muss 2020 mit einem Rückgang des Bruttosozialprodukts um rund sieben Prozent rechnen, in Italien könnte es das Doppelte sein. Ohne Gegensteuern würden die Staaten komplett auseinanderdriften, die gesellschaftlichen Spannungen zunehmen, nationalistische Bewegungen womöglich zunehmen.

Die Kehrtwende in der deutschen Europapolitik ist nicht überall gut angekommen

Um den Binnenmarkt funktionstüchtig zu halten, hatten Deutschland und Frankreich im Mai vorgeschlagen, im Rahmen des EU-Haushalts einen 500 Milliarden Euro umfassenden Wiederaufbaufonds einzurichten. Die Mittel sollten als Zuschüsse nach einem komplizierten Schlüssel werden. Besonders betroffene Staaten wie Italien oder Spanien sollten mehr erhalten als andere. Die EU-Kommission schlug kurz darauf einen 750 Milliarden Euro umfassenden Wiederaufbaufonds vor, mit weiteren 250 Milliarden Euro als Kredite.

Merkel nimmt sich viel Zeit zum Erklären, weil die Vorschläge eine Kehrtwende in der deutschen Politik widerspiegeln. Bislang durfte die EU-Kommission weder in großem Stil Schulden machen noch Zuschüsse ausreichen. Die Kehrtwende ist nicht überall gut angekommen. Vor allem die Niederlande, Dänemark, Österreich und Schweden sind skeptisch. Sie fürchten eine europäische Schuldenunion und wollen Hilfen an Auflagen koppeln.

Conte will die Bedenken zerstreuen. Italien habe "proaktiv ein nationales Wiederaufbauprogramm" gestartet, sagt er, spricht von Bürokratieabbau, grünen Technologien. Letzten Freitag war er damit schon bei dem niederländische Premier Mark Rutte. Ob er den Skeptiker überzeugen konnte, wird sich am Freitag zeigen.

© SZ vom 14.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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