Alben der Woche:Raunen für die Post-Corona-Welt

Jarvis Cocker hat ein neues Projekt, die "Dixie Chicks" haben einen neuen Namen - aus politischen Gründen. "Die Orsons" sind auffallend ernst, die "Pretenders" immer noch erstaunlich zahm.

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Pretenders - "Hate for Sale" (BMG)

Pretenders - 'Hate for Sale'

Quelle: dpa

Als beste weiße Sängerin der Geschichte des Rock'n'Roll wurde Chrissie Hynde einst gepriesen, aber derlei Exzellenzbehauptungen sind im Pop immer Unfug. Dessen Besonderheit ist ja gerade, dass eine schwache Sängerin viel besser sein kann als die beste. Mit anderen Worten: Debbie Harry und Blondie zum Beispiel waren immer die coolere, interessantere Post-Punk-New-Wave-Band. Die Pretenders wirkten dagegen auch in ihren besten Momenten, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger ("Brass In Pocket", "The Adultress"), immer erstaunlich seicht, auch wenn die Texte und der Gesang Hyndes durchaus souverän abgründig-postpunkig sein konnten. Am nun erscheinenden elften Studio-Album der Band "Hate For Sale" (BMG) fällt dementsprechend die immer noch verblüffend kraftvoll-verhangene Stimme der 68-jährigen Chrissie Hynde auf - und die immer noch erstaunlich zahme Musik, die mit Punkrock oder Post-Punk ungefähr so viel zu tun hat wie ein frisierter Schoßhund mit einem verwahrlosten Straßenköter.

Jens-Christian Rabe

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The Chicks - "Gaslighter" (Smi Col/Sony Music)

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Quelle: SZ

Die Dixie Chicks sind, pünktlich zur Veröffentlichung ihres neuen Albums, nur noch The Chicks. Wobei ihnen das "Dixie" im Namen schon lange verhasst war. Der Spitzname für die amerikanischen Südstaaten suggeriert weiße Vorherrschaft und ist eng verbunden mit der Country-Szene, die das Trio zuerst vergöttert und dann geschasst hatte. 2003, zu Beginn des Irak Kriegs, sagte Sängerin Natalie Maines bei einem Konzert in London, sie schäme sich dafür, dass Präsident George W. Bush wie sie aus Texas stamme. Daraufhin spielten die Countrysender ihre Musik nicht mehr, die Bandmitglieder bekamen Morddrohungen und den frühen Hass des Netzes zu spüren. Am Ende war es das Beste, was ihnen passieren konnte: die patriotischen Country-Fans trieben sie endgültig in die Arme des Pop, wohin sie ohnehin schon immer besser gepasst haben. Sie wurden Vorbilder für heutige Mainstreampop-Feministinnen wie Taylor Swift oder Grimes. Jetzt, 14 Jahre später, kommt das neue Album "Gaslighter". Produziert von Jack Antonoff, dem Indie-Nerd, dem die Frauen vertrauen (u.a. Lorde, Lana Del Rey, St. Vincent). Er unterstützte die Country-DNA der Band und lässt sie gleichzeitig vertraut und neu klingen. Immer da: der Twang in den drei Stimmen, die so unverschämt gut miteinander harmonieren. Der Titeltrack ist ein herrlicher stampfender Arschtritt für Natalie Maines betrügenden Ex-Mann, ihre Scheidung zieht sich durch viele der Songs. "Texas Man" besingt die Sehnsucht, mal wieder jemanden kennenzulernen, der es mit einer erwachsenen Frau aufnehmen kann, die schon ein Leben gelebt und auch ein paar Beulen abbekommen hat. Empowerment-Pop (nicht nur, aber endlich auch mal) für Frauen und Mütter, die auf die 50 zugehen. Gut, dass The Chicks wieder da sind!

Ann-Kathrin Mittelstrass

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Protomartyr - "Ultimate Success Today" (Domino Records/Goodtogo)

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Quelle: SZ

Manchmal findet man den Sommer unerträglich. Den provozierend grellen Sonnenschein, den Druck, rausgehen und "das Leben genießen" zu müssen! Nee, lieber mal drinnen bleiben und das neue Album der Detroiter Post-Punk-Band Protomartyr anhören. "Ultimate Success Today" ist die perfekte Sommerverweigerungsplatte. "Summer in the City bring me low" knurrt Sänger Joe Casey an einer Stelle. Danke dafür. Auf dieser Platte herrschen Dunkelheit und Kälte. Postapokalyptische Szenen, Grübeleien über die Nichtigkeit der menschlichen Existenz, Schmerz und Angst entladen sich in formidablem Krach. Und zuweilen gibt's ein irres Saxofon, das die klaustrophobische Stimmung noch verstärkt. Gut so.

Ann-Kathrin Mittelstrass

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Die Orsons - "Tourlife4Life" (Vertigo Berlin/Universal Music)

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Quelle: SZ

Die Stuttgarter Rapper und Produzenten Tua, Kaas, Maeckes und Bartek sind vier so liebenswerte wie durchgeknallte Typen - und Die Orsons, die klügste und lustigste Hip-Hop-Band des Landes. Das neue Album "Tourlife4Life" ist ein Konzeptalbum über das Leben auf Tour, was, durch die Corona-Realität eingeholt, fast schon trotzig wirkt. "Meine Gang hat Energie, und die muss raus", ballert Tua am Anfang des Albums gleich mal los. Dass zwischen den Shows und der Party auch endlose nächtliche Busfahrten und viel Zeit zum Nachdenken liegen, hört man dem Album aber eben auch an. Der Orsons-typische Quatschfaktor ist zwar noch da ("Schüttel dein Skelett"), aber insgesamt wirkt das Album ungewohnt düster. Die wie immer hervorragend dichte, ausgefuchste Produktion erinnert stellenweise ("Schuhwurf3000") gar an Kanye Wests "Yeezus"-Album.

Ann-Kathrin Mittelstrass

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Jarv Is - "Beyond The Pale" (Rough Trade/Beggars Group/Indigo)

Jarv Is - 'Beyond The Pale'

Quelle: dpa

Der etwas alberne Bandname deutet es an: Jarvis Cocker, als Sänger von Pulp einer der Stars des 90er-Britpop, ist wieder da, elf Jahre nach dem letzten richtigen Soloalbum. Gegründet wurden Jarv Is ... schon 2017, erst nur für kunstbehauchte Performances. Das Album, das nun aus Live- und Studioaufnahmen zusammengepuzzelt wurde, gehört allerdings zum Stärksten, was Cocker zuletzt gelungen ist: düster glühender, klaustrophobisch beleuchteter Pop, informiert vom deutschen Krautrock der 70er wie von den After-Hour-Sounds britischer Raves. Dazu raunt Cocker seine unnachahmlich absurden Geschichten. Britpop in zeitgemäßem Format, tauglich für die Post-Corona-Welt? So kann er aussehen.

Joachim Hentschel

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Jarv Is - Jarvis Cocker

Quelle: dpa

Raunen kann er, der Jarvis von Jarv Is... und damals von Pulp - und wird es weiter tun.

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© sz.de/biaz
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