Der Suhrkamp-Chef unterwegs:Zwischen Kolportage und Geschäftsbericht

Heinrich Böll, Theodor W. Adorno und Siegfried Unseld in Frankfurt, 1968

Siegfried Unseld (rechts) neben Theodor W. Adorno und Heinrich Böll, 1968.

(Foto: dpa)

Etwa 1500 Reiseberichte hat der Verleger Siegfried Unseld verfasst. Fünfunddreißig von ihnen sind in einer Auswahl erschienen. Sie spiegeln bundes­republikanische Geschichte.

Von Thomas Steinfeld

Vor langer Zeit, genauer: im Herbst 1985, veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag ein Werk, das als Höhepunkt der Saison und weltliterarisches Ereignis angekündigt war, bisher aber vor allem als Monstrosität in Erinnerung geblieben ist: den Roman "Dessen Sprache du nicht verstehst" der Wiener Schriftstellerin Marianne Fritz. Er erschien zunächst in einer dreibändigen Dünndruckausgabe in einer Auflage von tausend Exemplaren, ein paar Monate später in einer zwölfbändigen, mehr als drei Kilogramm schweren Edition, die innerhalb des Verlags als "Volksausgabe" verspottet wurde. In einer eigenwilligen Diktion, in der Grammatik-, Setz- und Satzfehler selten von einer gewollten ästhetischen Form zu unterscheiden sind, erzählt die Autorin darin die Geschichte der Proletarierfamilie Null aus einem Marktflecken namens Nirgendwo, wobei sich der Großteil der Ereignisse im Jahr 1914 zuträgt. Eigentlicher Gegenstand dieses Romans ist aber der Zerfall einer Gesellschaft, eine Regression ins Bodenlose, die auch von der Literatur, trotz gigantischer Anstrengung, nicht aufgehalten werden kann. Die Kritik stand damals ratlos vor diesem Werk. Einige Kollegen waren strenger. Von "stumpfsinnigem Müll" und einer "verlegerischen Katastrophe" sprach Thomas Bernhard, immerhin einer der wichtigsten Autoren des Suhrkamp-Verlags, in einem Brief an Siegfried Unseld.

Dieser Verleger pflegte, seitdem er im Jahr 1959 die Nachfolge Peter Suhrkamps angetreten hatte, nach jeder seiner Reisen einen Bericht anzufertigen. In vielen dieser Berichte scheinen sich die Genres zu mischen. In der Mitte steht eine Art Ergebnisprotokoll, bei dem es um verlegerische Nachrichten und Überlegungen geht. Daneben und darüber hinaus aber ziehen Elemente des Tagebuchs und der Reportage in diese Berichte ein. Für ihren eigentlichen Zweck, nämlich für die Kommunikation innerhalb des Verlags, für das Gespräch mit den Assistenten, den Lektoren, den Kaufleuten und Herstellern erscheinen diese Berichte als über die Maßen aufwendig. Zugleich aber sind sie eine ebenso intellektuelle wie literarische Manifestation, nicht zuletzt im Hinblick auf den vertrauten Umgang mit den berühmtesten Autoren. Vielleicht brauchte es solche Dokumente, um sich gegen einige ausgesprochen selbstbewusste Lektoren durchzusetzen. Vielleicht waren sie Mittel einer intellektuellen Selbstverständigung. Vermutlich bereitete es Siegfried Unseld auch Freude, zuerst Notizen anzufertigen, dann einen Fließtext auf ein Diktafon zu sprechen und diesen dann transkribieren zu lassen. In den späteren Jahren scheint er ein autobiografisches Werk im Sinn gehabt zu haben. In jedem Fall aber vermitteln sie auch einem Leser, der mit den inneren Angelegenheiten des literarischen Betriebs wenig zu schaffen hat, ein lebendiges Bild einer mittlerweile fern wirkenden Welt, die vor allem aus Büchern und bedeutenden Schriftstellern sowie aus ein paar Gelehrten, Hilfskräften und Witwen zusammengesetzt zu sein scheint.

Im Januar 1985 hielt sich Siegfried Unseld in Wien auf, unter anderem, um mit Marianne Fritz an ihrem großen Werk zu arbeiten, nachdem sich, wie aus anderen Quellen zu erfahren ist, die Lektoren der Arbeit am Manuskript entzogen hatten. "Es wird mir kaum möglich sein, die Eindrücke dieser Reise festzuhalten", heißt es im Bericht. "Ich werde mich auf die konkreten Dinge beschränken müssen und das Nichtgeschriebene der phantasierenden Erinnerung freigeben". Was dann kommt, ist das Protokoll einer Arbeit am Text, die sich über viele Stunden hinzieht, weil das Insistieren auf Gemeinverständlichkeit immer wieder am künstlerischen Eigensinn scheitert, bis hin zum letzten Ausrufezeichen und zu heftigen Klagen über eine schlechte Behandlung durch den Verlag. "Ich hielt das durch, weil ich eine wirkliche Bewunderung für sie habe. Sie ist eine herausragende Schriftstellerin."

Es entsteht das Bild einer ferngerückten Welt aus Büchern, Autoren, Hilfskräften und Witwen

Der weitere Aufenthalt in Wien scheint zwar leichter zu ertragen, aber nicht einfacher gewesen zu sein: Thomas Bernhard bekommt einen Teil des Honorars für "Alte Meister" in bar ausgezahlt und wünschte sich eine Edition der Werke seines Großvaters Johannes Freumbichler. Der Streit zwischen Thomas Bernhard und dem Komponisten Gerhard Lampersberg sollte den Gerichten entzogen werden. Der Deutsche Klassiker-Verlag, das ehrgeizigste Unternehmen des Verlegers Unseld, wurde den österreichischen Buchhändlern vorgestellt. Im Übrigen hielt der Suhrkamp-Verlag seiner Autorin Marianne Fritz die Treue, den wachsenden Buchumfängen und den fehlenden Verkäufen zum Trotz.

Siegfried Unseld trennt nicht zwischen seiner Person und dem Verlag. Er selber ist der Verlag, wohin er auch kommt, zur Intellektuellenrunde bei Ludwig Erhard, im Gefolge des deutschen Außenministers bei Boris Jelzin, zu Besuch beim sterbenden Samuel Beckett in einem Pariser Altenheim. Zuweilen wallt der Stolz in ihm auf, auf die eigene Bedeutung, auf das berühmte Unternehmen, dem er vorsteht, auf die Welt der Gelehrten und der Künstler, die ihn achtet und ehrt. Manchmal aber wirkt er wie ein Maultier, das seine Lasten über weite Strecken und unwirtliches Gelände trägt, bei schlechtem Wetter und mit angelegten Ohren. Und oft erscheint er als Diplomat, in einem doppelten Sinn: insofern er viele und heftige Demütigungen ertragen muss und doch zugleich einer Anerkennung gewiss sein kann, die auch ihm als Menschen gilt.

Die schlimmsten Herabsetzungen erfährt er von den Schriftstellern, die mit ihm und durch ihn groß geworden sind, von Max Frisch zum Beispiel, dem keine Anerkennung groß genug zu sein scheint, oder von Thomas Bernhard, der mit ihm spielt wie eine Katze mit der Maus - und dann doch nicht zubeißt. "Auch ich habe ein Recht, nicht gedemütigt werden zu wollen", schreibt er in einem Bericht aus New York. Der Satz ist abgründig, nicht nur, weil nicht zu erkennen ist, an wen er sich richtet. Er klingt, als hätte Siegfried Unseld das "gedemütigt werden" schon hingenommen, als bitte er nur darum, die Demütigung nicht auch noch wollen zu müssen.

Die Berichte zirkulierten unter den Abteilungsleitern und Lektoren

Eintausendfünfhundert Reiseberichte soll es von Siegfried Unseld geben. Fünfunddreißig von ihnen hat Raimund Fellinger, der im April dieses Jahres verstorbene ehemalige Cheflektor des Suhrkamp-Verlags, für eine handliche Edition ausgewählt. Sie beginnt im April 1959, mit einem Besuch in Berlin, bei dem es vor allem um diverse Ausgaben der Werke Bertolt Brechts geht, um die Tantiemen für die "Dreigroschenoper" und den Apparat für die historisch-kritische Ausgabe. Die Edition endet mit dem Bericht zu einer Reise nach Moskau im Dezember 1997, aus Anlass zweier Lesungen, bei denen Ulla Berkéwicz, die zweite Frau des Verlegers, ihren Roman "Engel sind schwarz und weiß" vorstellt. Es ist bitterkalt. Lenin in seinem Mausoleum am Roten Platz sieht aus, als schliefe er. Siegfried Unseld erfährt von einem russischen Verleger, dessen Unternehmen werde in fünfzig Jahren so groß sein, wie es Suhrkamp heute sei. Man verstehe aber nicht, "wie Suhrkamp mit diesen Büchern Geschäfte machen könnte".

Es folgt dann, gleichsam als Coda, der Bericht zu einem Begräbnis in München: Hermann Lenz war gestorben. Siegfried Unseld stößt einen leisen, aber sinnlosen Ruf der Verzweiflung aus: "Warum sterben die besonders liebenswerten Autoren?" Die Auseinandersetzungen um seine Nachfolge hatten zu jener Zeit längst begonnen. Siegfried Unseld erlag im Herbst 2002 den Folgen eines Herzinfarkts.

Die Reiseberichte wurden im Hause Suhrkamp, wie Raimund Fellinger in seinem knappen Nachwort erzählt, als Betriebsgeheimnis behandelt. Einmal abgetippt, zirkulierten sie unter den Abteilungsleitern und Lektoren, die ihre Lektüre per Paraphe zu bestätigen und zunächst die Abschrift an den Verleger zurückzugeben hatten. Später soll es auch Kopien gegeben haben. Bedeutsam sind die Berichte nicht nur, weil sie erkennen lassen, welche Gewichte Siegfried Unseld den Menschen und Institutionen zumaß, mit denen sein Unternehmen zum wichtigsten deutschen Verlag jener Zeit heranwuchs. Die Berichte gehören zugleich in einen engen Zusammenhang mit den Chroniken, in denen ab 1970 Tag für Tag die Ereignisse innerhalb des Verlags festgehalten wurden (zwei Bände sind veröffentlicht). Und sie gehören in einen Kontext mit Siegfried Unselds Briefwechseln mit seinen Autoren. Sie sind zum Teil publiziert. Zusammengenommen entsteht in diesen Büchern mehr als nur der Lebenslauf eines Mannes und eines Verlags. Zu lesen ist vielmehr eine Geschichte der Bundesrepublik in Gestalt ihres bekanntesten Kulturunternehmens, frei oszillierend zwischen Kolportage und Geschäftsbericht, zwischen Erzählung, Rechenschaft und Kritik.

Siegfried Unseld: Reiseberichte. Herausgegeben von Raimund Fellinger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 384 Seiten, 26 Euro.

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