Emser Depesche:Die Pressemitteilung, die ein Gemetzel auslöste

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Wilhelm I. (mit Stock, Zylinder und dunklem Mantel) auf der Kurpromenade in Bad Ems. (Foto: Scherl)

Im Sommer 1870 entscheidet sich auf der Kurpromenade des mondänen Bad Ems das Schicksal Europas. Die denkwürdige Vorgeschichte des Deutsch-Französischen Krieges.

Von Kurt Kister

Der Stein, so heißt es auf einer Plakette, ist im Februar 2001 von der CDU-Seniorenunion Bad Ems gestiftet worden. Es ist ein grauer Findling, auf dessen Vorderseite eine ältere Marmorplatte eingelassen ist. Auf ihr liest man: "13. Juli 1870 9 Uhr 10 Min Morgens".

Der Stein steht auf der Kurpromenade von Bad Ems an jener Stelle, an der es am 13. Juli vor 150 Jahren eine kurze Unterredung gab zwischen dem preußischen König Wilhelm I. und Graf Vincent Benedetti, französischer Botschafter in Berlin. Das Zusammentreffen der Herren, die einander aus vielen Gesprächen kannten, bot den Anlass für zwei Schriftstücke, die unter einem Namen in die Geschichte eingingen: Emser Depesche.

König Wilhelm, nach 1871 Kaiser Wilhelm, war Dauergast in Ems. Zwischen 1867 und 1887, ein Jahr vor seinem Tod, verbrachte er in fast jedem Sommer drei bis vier Wochen in dem Kurort, der bis 1866 zum Herzogtum Nassau gehörte. Als Folge des Krieges von 1866, in dem Preußen einer von Österreich angeführten vor allem süddeutschen Allianz eine vernichtende Niederlage beibrachte, annektierte Bismarcks Preußen auch das Herzogtum Nassau.

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Der König also kurte von da an in einer "seiner" neuen Provinzen, was mindestens anfänglich auch politische Gründe hatte. Die Leute sollten spüren, dass sie jetzt zu Preußen gehörten, und der König wollte dies eben auch auf der Kurpromenade von Ems demonstrieren.

Ems an der Lahn zählte im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert zu jenen sogenannten Weltbädern, in denen sich Monarchen, Adel und reiche Bürger zu Trinkkuren trafen. Man füllte sein Glas mit dem örtlichen Wasser, dem Heilkräfte nachgesagt wurden, und flanierte schlückchentrinkend unter seinesgleichen. Dies geschah in Baden-Baden, im belgischen Spa oder im k. u. k. Bad Ischl, wo Österreichs Kaiser Franz Joseph die Sommerwochen nicht nur mit seiner Gattin Elisabeth verbrachte.

Wie die meisten dieser Städte lebt auch Bad Ems heute einer Vergangenheit hinterher, die sich immer noch in bombastischen Kurhäusern, Sälen und Hotels manifestiert. Gerade in der Corona-Rezession, in der die Gäste nicht zahlreich sind und eher nachmittags auf Elektrofahrrädern daherkommen, haben die Häuserzeilen auch etwas Gespenstisches.

Man könnte meinen, man höre abends einen melancholischen Nachhall in dem leeren Städtchen, in dem mal Könige und Zaren, Dostojewski und Turgenjew, Clara Schumann und Victor Hugo zu Gast waren. Wo einst König Wilhelm im Ostflügel des Kurhauses logierte, gibt es heute ein Ayurveda-Gesundheitszentrum. So ändern sich die Zeiten.

Im Sommer 1870 jedenfalls waren die Spannungen zwischen Frankreich und Preußen groß. Man darf nicht vergessen, "Deutschland" war damals zwar ein geografischer Begriff und drückte durchaus auch das Sehnen vieler nach einer deutschen Vereinigung aus. Ein Staat aber war es nicht. Es bestand aus Königreichen wie Preußen oder Bayern, aus Großherzog- und Fürstentümern, aus Städten und Kleinherrschaften.

Frankreich beobachtete argwöhnisch den Aufstieg Preußens

Zwar hatte sich Preußen nach dem für ihn siegreichen Krieg 1866 manches einverleibt, darunter eben auch Nassau oder das Königreich Hannover. Gerade dieser Krieg aber, der das Ende des Deutschen Bundes sowie der Bedeutung Österreichs in der deutschen Frage brachte, diente nicht unbedingt der Versöhnung. Viele Bayern und Württemberger wollten von einem preußischen Deutschland, organisiert durch Bismarcks Norddeutschen Bund, nichts wissen.

Frankreich unter seinem Putschkaiser Louis Napoleon, dem Neffen des großen Napoleon, beobachtete argwöhnisch den Aufstieg jenes Preußen, das vielen Parisern als die Heimstatt der polternden Krautjunker mit Pickelhauben galt.

Als Preußen im Juli 1866 bei Königgrätz die österreichische Armee schlug, bedeutet dies für Frankreich, dass sich eine zweite Macht in Europa etabliert hatte, die als Drohung empfunden wurde. Der Ausruf "Revanche pour Sadova", Rache für Sadowa, wurde zum geflügelten Begriff (Sadowa hieß ein Dorf bei Königgrätz).

Während Preußen politisch und militärisch wuchs, schrumpfte Frankreich eher. Der einst bedeutende Napoleon III. war chronisch krank und hatte sein Land in imperialem Bestreben in unglückliche Abenteuer verwickelt wie etwa die Installierung eines Habsburger Erzherzogs als Kaiser von Mexiko.

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In Paris, aber auch in Berlin, gab es angesichts dieser Lage eine bedeutende Anzahl von Politikern und Offizieren, die für einen Präventivkrieg gegen den jeweils anderen votierten. Die einen wollten so die Größe der Nation wiederherstellen, Preußen in seine Schranken verweisen und Rache für Sadowa nehmen.

Die anderen sahen einen Krieg gegen Frankreich als ein Vehikel für die Vereinigung Deutschlands unter preußischer Führung und als unausweichliche Konsequenz aus den beiden Kriegen von 1864 und 1866. Frankreich konnte nicht bleiben, was es sein oder wieder werden wollte, weil Preußen unter der politischen Führung seines Ministerpräsidenten Otto von Bismarck mehr werden wollte, als es war.

In einer solchen Situation können sich Petitessen oder mittelmäßig wichtige Dinge zu großen Gefahren auswachsen. 1868 war in Spanien die regierende Königin Isabella von einer Offiziersgruppe unter General Juan Prim weggeputscht worden.

Die Putschisten suchten nun nach einem König aus hochadeligem Haus. Die Wahl fiel auf den Prinzen Leopold von Hohenzollern, der nicht den preußischen Hohenzollern angehörte, sondern der katholischen Linie, die ihr Schloss in Sigmaringen hat.

In Paris, zumal bei der Rache-für-Sadowa-Fraktion, rief die Möglichkeit, ein Hohenzollernprinz könne König im Nachbarland Spanien werden, Wut und Alarmismus hervor. Die Sigmaringer Hohenzollern beschieden die noch nicht offizielle Anfrage zunächst abschlägig.

Dann aber entsandte der Putschisten-Chef Prim im Februar 1870 einen Sonderbotschafter nach Sigmaringen mit der offiziellen Anfrage an Leopold. König Wilhelm und Kanzler Bismarck wurden ebenfalls informiert. (Bismarck hat in den Jahren danach stets behauptet, es habe keine Kontaktaufnahme durch die Spanier gegeben.)

Während Preußens König der Unternehmung skeptisch gegenüberstand, nutzte Bismarck die Gelegenheit und warb seinerseits bei den Sigmaringern und bei Wilhelm für die Annahme der Kandidatur. Schließlich stimmten sowohl Leopold als auch sein Vater und, grummelnd, auch König Wilhelm zu. Anfang Juli wurden die vertraulichen Machinationen in Madrid öffentlich, am 2. Juli stand es in den Pariser Zeitungen. Nun gab es kein Halten mehr.

Der gefangene französische Kaiser Napoleon III. (li.) und Preußens Kanzler Bismarck nach der Schlacht von Sedan, Anfang September 1870. (Foto: Röhnert)

Am 6. Juli hielt der Außenminister Herzog von Gramont, einer der Falken in Napoleons Regierung, eine Rede im Parlament mit dem Satz: "Frankreich wird nicht dulden, dass der Prinz von Hohenzollern oder ein anderer preußischer Prinz Spaniens Thron besteigt." Zwar sprach Gramont nicht explizit von Krieg, aber es wurde durchaus sehr deutlich, wie ernst sich die Regierung, die sich ja für Frankreichs Stimme hielt, provoziert fühlte.

Während sich die Lage zuspitzte, weilte König Wilhelm in Ems und trank Wasser. Außenminister Gramont schickte den Botschafter Benedetti nach Ems, der bei Wilhelm erwirken sollte, dass er von der Kandidatur seines Verwandten Leopold Abstand nehmen sollte.

Gleich nachdem Benedetti am 8. Juli 1870 angekommen war, empfing ihn der König am 9. Juli zu einem ersten langen Gespräch. Benedetti erläuterte Wilhelm, dass er Leopold die Annahme der Kandidatur untersagen solle; Wilhelm erklärte Benedetti, dass er das nicht könne, weil dies keine Angelegenheit Preußens sei, sondern nur ein Vorgang zwischen den Spaniern und den Sigmaringern.

Es ging hin und her, und wer das nachlesen möchte, der nehme Theodor Fontanes Werk "Der Krieg gegen Frankreich" zur Hand ( ist in diversen billigeren und teureren Ausgaben nicht nur antiquarisch erhältlich). Fontane zitiert ausführlich aus Benedettis Memoiren, was er auch tut, um dem Eindruck entgegen zu wirken, der König habe den Botschafter auflaufen lassen oder ihn nicht empfangen.

Wilhelm weigerte sich, abermals mit dem französischen Botschafter zu sprechen

Benedetti jedenfalls war bis zum 12. Juli mehrmals bei Wilhelm, bevor es dann am Morgen des 13. Juli zum letzten Treffen kam, wie es nun in Stein gemeißelt auf der Emser Kurpromenade vermerkt ist.

Am 12. Juli erfuhr Außenminister Gramont vom spanischen Botschafter in Paris, dass Leopold von Hohenzollern nun doch endgültig auf die Kandidatur verzichten wolle. Wohl auch angesichts der aufgeheizten Vorkriegsstimmung war Gramont dies allein nun nicht mehr genug.

Telegrafisch wies er Benedetti in Bad Ems an, er solle von König Wilhelm erstens die Bestätigung des Verzichts verlangen, und zweitens solle Wilhelm versichern, dass er auch nie wieder eine solche Kandidatur autorisieren werde. Fontane interpretiert das nicht ganz zu Unrecht so, dass der französische Außenminister vom preußischen König ein öffentliches "sich Beugen vor der superioren Macht Frankreichs" forderte.

Benedetti tat am nächsten Morgen wie ihm von seinem Chef geheißen ward. Er "fing", wie es Wilhelm selbst formulierte, den König auf der Kurpromenade ab und trug ihm vor, was Gramont wollte. Wilhelm lehnte, wie zu erwarten war, ab. Später am Tage suchte der Botschafter um eine Audienz beim König nach, die der aber verweigerte, weil man ja schon mehrmals miteinander gesprochen habe und es darüber hinaus nichts zu sagen gebe.

Am Nachmittag des 13. Juli verfasste der Diplomat Heinrich Abeken, ein Mitarbeiter Bismarcks, der mit König Wilhelm in Ems war, ein längeres Telegramm an den Kanzler, um den von den Vorgängen zu unterrichten.

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Abeken bediente sich dabei einer Schilderung, die der König selbst geschrieben hatte, weswegen Abekens Telegramm, die eigentliche Emser Depesche, mit dem Satz begann: "Der König schreibt mir" ("mir" bezog sich auf Abeken). Zwar hieß es in Wilhelms Schriftstück, dass Benedetti ihn "auf zuletzt sehr zudringliche Art" um die von Gramont geforderte Absage gebeten habe.

Dennoch ist Abekens Telegramm nicht mehr als eine Schilderung des Ablaufs sowie die Mitteilung, dass der König beschlossen habe, den Botschafter in dieser Angelegenheit "nicht mehr" zu empfangen - was wiederum impliziert, dass Wilhelm vorher mit Benedetti mehrmals gesprochen hatte.

Abekens Telegramm erreichte Bismarck am Abend des 13. Juli in Berlin. Der König stellte Bismarck in Abekens Schreiben frei, ob er "die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweisung" auch der Presse mitteilen wollte. Genau das wollte Bismarck.

Der Kanzler fertigte eigenhändig eine gekürzte, etwas redigierte Version von Abekens Depesche an. Bismarcks Text bestand nur aus zwei langen Sätzen. Der erste Satz sagte, dass der französische Botschafter, nachdem man in Paris bereits von Leopolds Verzicht auf die Thronkandidatur gewusst hatte, die weitere Forderung überbrachte, dass der König sich "für alle Zukunft" gegen eine solche Kandidatur verpflichten solle. Im zweiten Satz hieß es dann, der König habe daraufhin ein weiteres Gespräch mit Benedetti abgelehnt.

Für jene wenigen, die den Gang der Dinge in Ems kannten, war die von Bismarck redigierte Emser Depesche nicht falsch und eigentlich auch nicht sehr provozierend. Da aber kaum jemand außer den Beteiligten wusste, was vorher passiert war und wie oft der König mit Benedetti gesprochen hatte, klang Bismarcks Text für die allermeisten in Deutschland so, als sei der König mit einer absurden Forderung belästigt worden und habe dies damit beantwortet, dass er den Gesandten Frankreichs zurückwies.

Bismarcks handwerkliche Eingriffe steigerte in Paris die Empörung

In Paris wiederum wurde das Ansinnen, dass sich der preußische König von jedweder Hohenzollern-Kandidatur distanzieren solle, nur als recht und billig gesehen. Dass Bismarck mit seiner Emser Depesche aus einer politischen Niederlage für Preußen (kein Hohenzoller auf dem spanischen Thron) eine öffentliche Brüskierung der anscheinend offensiven Außenpolitik Napoleons machen wollte, steigerte in Paris die Empörung. Man war nicht nur empört, sondern auch siegesgewiss, weil man glaubte, die beste Armee und überlegene Militärtechnik zu haben.

Letztlich spielten die diplomatischen Kämpfe um die spanische Kandidatur in Frankreich und Deutschland jenen in die Hände, die nach 1866 einen Krieg entweder für unausweichlich oder sogar für nötig hielten. Die eigentlich zwei Emser Depeschen beschleunigten dies.

Noch am 14. Juli beschloss das Kabinett in Paris die Mobilmachung. Preußen und der Norddeutsche Bund riefen ebenfalls zu den Waffen, und selbst Bayern und Württemberg, die zögerlichen Süddeutschen, machten mobil. Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich den Krieg.

© SZ vom 18.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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