Literatur:Erzählerin des Nichterzählten

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Nicht zuletzt angeregt von der eigenen Familiengeschichte hat Stefanie Gregg einen Dreigenerationenroman geschrieben, der von Krieg, Flucht, Sehnsucht, Traumata und ihren langen psychischen Schatten handelt. (Foto: Angelika Bardehle)

Die Ottobrunnerin Stefanie Gregg hat mit "Nebelkinder" einen Roman geschrieben, der die Lebensgeschichte von drei Frauen aus drei Generationen umspannt - es geht auch darum, wie Traumata und Verschwiegenes noch auf die Enkelgeneration wirken

Von Udo Watter, Ottobrunn

Käthe liegt oft lange im Bett, sie ist "in ihrer traurigen Wolke versunken" und Ludwig versteht seine Frau nicht mehr. "Früher war sie lebenslustig. Und jetzt - es geht uns doch so gut! Immer ist sie traurig", sagt er zu seiner Tochter Ana. "Vati, der Zug. Der Zug hat das auch ihr gemacht", antwortet diese. Ludwig, selbst erst vor kurzem aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, reagiert eher verständnislos. Dass sein Frau Käthe mit den beiden Töchtern gerade noch rechtzeitig vor der Ankunft der Roten Armee aus Breslau geflohen war, es in langen, harten Wochen nach Bayern geschafft hatte, und schließlich im Februar 1945 in München gelandet war - nun das war sicher nicht einfach gewesen, aber es war doch vorbei und jetzt war alles besser und die Zukunft lockte. Warum also drüber reden? "Hat Mutter dir nie etwas drüber erzählt", fragt Ana. - Nein, nie", antwortet er eher verwundert. So, als wolle er es gar nicht genau wissen, und fügt das Entscheidende hinzu: "Aber sie hat euch hinausgebracht, alle drei unversehrt. Und dafür liebe ich sie." Seine Worte hallen in Ana nach: "Unversehrt...unversehrt..unversehrt."

Von wegen unversehrt. Die Wunden, welche die Vergangenheit schlug, sind größer als er sich vorstellen mag und erst recht sind sie nicht verheilt. Käthes Schmerz ruht irgendwo in den nebligen Abgründen ihrer Seele: Die Flucht, die Bomben, die Angst, Kälte, sexuelle Gewalt, Erniedrigung - all das hat unauslöschliche Spuren hinterlassen.

In Stefanie Greggs neuem Roman "Nebelkinder" (Aufbau-Verlag, Berlin) geht es freilich nicht nur um die unmittelbar traumatisierte Kriegsgeneration, sondern um die psychischen Vererbungen auf die Nachkommen: Es ist eine deutsche Familiengeschichte, die drei Generationen umfängt und bis in die Jetztzeit reicht, und zugleich die Geschichte der "Nebelkinder", ein Begriff, aus der modernen Psychologie, welcher die Kriegsenkel bezeichnet, die trotz wachsenden Wohlstands und Sicherheit eine diffuse Last mit sich rumtragen und sich, scheinbar undankbar, dem vermeintlichen Glück ihrer besseren Rahmenbedingungen verweigern. "Sie stochern im Nebel des Nichtgesagten, des Verschwiegenen, in all dem Nichterzählten", so Gregg.

Inspiriert von ihrer eigenen Familiengeschichte schildert die in Ottobrunn lebende Autorin das Schicksal dreier Frauen aus drei Generationen - Käthe, die in herrschaftlicher Breslauer Familie aufgewachsen ist, ihre große Liebe findet, aber durch ihrer Erlebnisse auf der Flucht aus Schlesien nachhaltig gebrochen wird. Ana (Anastasia), die Tochter die statt ihrer auf der Flucht schnell heranreift und zum verantwortungsbereiten Familienoberhaupt wird. Und Lilith, die äußerlich komplett unbelastet von den Kriegstraumata aufwächst - oder eben doch nicht? Die Vererbung von Traumata erfolge nicht nur soziologisch, wie Gregg im Nachwort mit Bezug auf Forschungsergebnisse erklärt, "sondern auch genetisch und epigenetisch. Die Nebelkinder sind jene, denen man ihr Leben lang erklärt hat, in welchem Privileg sie aufwachsen, ohne Krieg und in stetig wachsendem Wohlstand. Dennoch ist es auch die Generation der Depressiven."

Die Unfähigkeit, das Glück zu greifen, die unterschiedlichen Wege zum Glück, die richtungsweisende Entscheidung zwischen Leidenschaft und Sicherheit, Entfremdung und Distanziertheit spielen in dem zwischen verschiedenen Zeitebenen changierenden Buch die tragenden Rollen. Lilith, die vor der elementaren Frage steht, den Sohn ihrer großen Liebe Robert aufzunehmen und großzuziehen (den dieser mit ihrer besten Freundin gezeugt hat), will das eigentlich nicht tun. Ihre Mutter Ana, zu der sie ein distanziertes, fast unterkühltes Verhältnis hat, rät ihr erstaunlicherweise, das Kind aufzunehmen. Ihr Streitgespräch mündet in Anas Vorschlag, nach Breslau zu fahren, es wird dann natürlich auch eine Reise in die Vergangenheit, und allerlei Familiengeheimnisse werden dabei enthüllt.

Dieser in der Gegenwart spielende Handlungsstrang ist indes literarisch nicht ganz so überzeugend wie Greggs Schilderungen von vergangenen Epochen - Ereignisse vor, während und nach dem Krieg inklusive der qualvollen Flucht. Es gibt zwar mitunter auch da stilistische Holprigkeiten ("Kurz hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange und ließ seine gierigen Hände um ihre Taille, bevor sie sich ihm gegenüber niedergelassen hatte"), zudem irritiert manch Konjunktiv ("Natürlich bliebe sie hier"), aber generell sind die Passagen, besonders die, welche die Flucht behandeln, eindrücklich geschrieben.

Man taucht als Leser ein in Kälte, Angst und Hunger der Flüchtenden. Man fühlt mit in der fatalistischen Ergebenheit, mit der Käthe sich um ihrer Kinder willen von einem Volkssturm-Mann immer wieder vergewaltigen lässt, man verfolgt respektvoll die frühe Reife von Anastasia. Es geht ums nackte Überleben, aber auch um weibliche Freiheit und Selbstermächtigung, nicht nur hier, sondern auch später. Natürlich spielt generell die Liebe eine Rolle und ihre emotionalen Begleiter "(Un)sicherheit" und "Verantwortung". Zudem die Frage, welches Lebensmodell das gemäße ist.

An dramatischen (und auch romantischen) Sequenzen fehlt es nicht, der Plot ist mitunter recht temporeich. Schön sind kurze Ausflüge ins Lakonische, auch gut komponierte tragische Ereignisse, wie ein Fliegerangriff, der in die Zerstörung des Nachbarhauses mündet, fesseln. Gregg, die viel recherchiert und rund drei Jahre an ihrem "Herzensbuch" gearbeitet hat, ist ein lesenswertes Buch gelungen, das auch angemessenes historisches Kolorit entfaltet, gelungene Charakterzeichnungen bietet, sogar ein paar anregende Exkurse über Architektur, Malerei und Poesie liefert - auch wenn Käthe 1945 noch keine Anhängerin von Paul Celan sein konnte; der hat seinen ersten Gedichtband 1948 veröffentlicht.

Dass der Roman sehr ambitioniert ist, dass ihm in viel Herzblut steckt, merkt man ihm an - ab und zu allerdings nicht unbedingt zu seinem Besten. Dann erklärt Gregg zu viel, verlässt sich nicht genug auf Rhythmik und Zauberkraft der Literatur, die ja zwischen den Zeilen zu wirken vermag. Der Einfall, Lilith, die dem großen kontinuierlichen Glück misstraut, das poetische Attribut "Sammlerin der Augenblicke" anzuhängen, ist schön, wird allerdings ein bisschen überstrapaziert - interessant ist hierbei, dass mit Quint Buchholz ein anderer in Ottobrunn lebender Künstler ein Bilderbuch "Sammler der Augenblicke" herausgegeben hat (bekannt ist es zudem als Theaterstück).

Insgesamt zieht das Buch der 1970 in Erlangen geborenen Autorin mit seinem spannenden historischen Kontext in den Bann. Man begleitet die drei Frauen auf ihren Reisen, spürt, wie sehr ihre Leben in gewissen zeitlichen Umständen gefangen sind oder konkret den Stricken der Vergangenheit. Und es geht ja vor allem um eine entscheidende Frage, die - auch jenseits von Kriegen oder sonstigen äußerlichen Extremsituationen - das menschliche Dasein prägt: Wie unversehrt sind wir, sind unsere Seelen überhaupt? Wie tief müssten wir eventuell in die Vergangenheit (unsere Abgründe) hineingehen, um etwaige Nebel zu lichten? Und wie wäre es, danach vielleicht einen anderen, einen besseren Weg zum möglichen Glück hin zu gehen.

© SZ vom 16.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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