75 Jahre Bayerischer Landes-Sportverband:Massenbewegung im Schmelztiegel

Lesezeit: 7 min

Kind der Demokratisierung: Der BLSV zwischen "Leibesübung", Corona und Gewaltprävention.

Von Johannes Schnitzler

Die vergangenen Wochen waren emotional schwierig für Jörg Ammon. Corona, klar, die "größte Herausforderung seit 75 Jahren", sagt der Präsident des Bayerischen Landes-Sportverbandes. Wegen des Virus musste er alle Feiern zum 75. Geburtstag des BLSV an diesem Samstag abblasen. Man könne in so einer Zeit "nicht Riesenpartys schmeißen", das sei "auch eine moralische Frage".

Und dann war da ja noch der "Club".

Ammon, 49, ist in Nürnberg geboren. Als Junge hat er Fußball gespielt, "leidenschaftlich", hat Judo betrieben, um dann mit noch größerer Leidenschaft Tennis zu spielen, für den 1. FCN - den "Club". Das mache einen nicht automatisch zum Fan. Aber wenn die Fußballer in die Relegation müssen und eher steifbeinig auf dem dünnen Seil zwischen zweiter und dritter Liga staksen, kann man sich dem als Nürnberger nicht entziehen. "Man leidet mit dem Verein", sagt Ammon. "Und das ab Geburt."

Für den Club ist es gerade noch mal gut gegangen, durch ein Tor in der Nachspielzeit. Viele Vereine aber stehen ausgerechnet jetzt, im Jubiläumsjahr des BLSV, vor existenzbedrohenden Problemen. Zu Beginn, sagt Ammon, war es noch relativ einfach. Nichts ging mehr, das haben alle verstanden. Durch die Lockerungen auch im Sport entstehen nun neue Fragen. Wer darf wann was, und warum die einen schon, die anderen aber noch nicht wieder? Und: Wie lange soll das noch so weitergehen?

Die Agenden zu moderieren von 56 unter dem Dach des BLSV organisierten Fachverbänden - von Badminton bis Taekwondo, von Breiten- bis Profisport -, ist angesichts wieder steigender Infektionszahlen und vor der Frage, was im Herbst und Winter passiert, wenn sich das Sportgeschehen in die Hallen verlagert, eine doppelte Herausforderung. Der BLSV befinde sich in einem "enormen Spannungsverhältnis", vielen dauert vieles zu lang. Das Motto sei, Sport für alle zu gestalten, sagt Ammon. "Wir brauchen eine Sensibilität dafür, was notwendig ist und was wünschenswert, damit es zu keinen Verwerfungen kommt. Aber wir werden nicht jedes Problem lösen können, so ehrlich muss man sein." Sport tue der Gesundheit gut - "bloß nicht, wenn die Menschen krank sind".

Beherrschendes Thema in modernisiertem Erscheinungsbild: Seit Jahresbeginn erscheint das BLSV-Magazin monatlich gedruckt und digital – für Mitglieder kostenlos. (Foto: BLSV / oh)

Wie der Club, so stehe der BLSV vor einer "Wiederauferstehung", genau wie bei seiner Gründung am 18. Juli 1945, nur zwei Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals sei "viel Aufbauarbeit zu leisten gewesen" - genau wie heute, wenn auch in einer völlig anderen Dimension.

Warum trafen sich damals, als Bayern in Schutt und Trümmern lag, Menschen, um sich "freiwillig in der Gemeinschaft zum Besten der Leibesübungen zusammenzuschliessen", wie es in der Ur-Satzung des BLSV heißt? "Man war froh, dass das alles hinter einem liegt", sagt Ammon. Es sei darum gegangen, in einen Alltag zurückzufinden. Heute wie damals spielt der Sport bei der Rückkehr zum Status quo ante eine zentrale Rolle. "Es gibt eine Sehnsucht nach Normalität", hat BLSV-Geschäftsführer Thomas Kern erspürt.

"Gott sei Dank leben wir seit 75 Jahren in Frieden und Freiheit und in einem sehr ordentlichen Wohlstand", sagt Jörg Ammon. Das lasse sich auch an den Mitgliederzahlen ablesen. 1945 gehörten 0,1 Prozent der bayerischen Bevölkerung einem Sportverein an; heute sind es 34 Prozent.

Ammon ist Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Ein Zahlenmensch. Vor ein paar Jahren hat er Triathlon und Ausdauersport für sich entdeckt. Am Handgelenk trägt er eine dieser Uhren, die einem Zeit, Pulsschlag, Blutdruck und wahlweise auch die Börsenkurse aus Taipeh anzeigen. Er sei ein kompetitiver Typ, einer, der sich gern an sich selbst misst. Zahlen sind dabei gute Indikatoren. Seine Lieblingszahl lautet: 4,6 Millionen. So viele Menschen gehören dem BLSV an. Ammon ist sich der Verantwortung bewusst, die aus solchen Zahlen erwächst. Noch einmal blickt er zurück, in die Zeit vor der Gründung des BLSV. Der Nationalsozialismus sei "ja nicht wie ein Wolkenbruch über Deutschland gezogen", kurz und plötzlich und dann ist's vorbei. Vorausgegangen sei eine Entwicklung, an der auch der Sport beteiligt war, "das muss man klar einräumen". An der Schwelle zum 20. Jahrhundert diente Sport im Geist von Turnvater Jahn vordergründig der Leibesertüchtigung. Der kaum kaschierte Zweck des Laufens und Springens aber war die Kräftigung des Nationalbewusstseins, die paramilitärische Stärkung des Volkskörpers für den Einsatz unter Waffen.

Sport hatte eine "militärische Facette", sagt Ammon - und zugleich eine demokratische. Dafür muss man noch ein Stück weiter zurückgehen in der Geschichte.

Im Kaiserreich war das Elitedenken noch stärker ausgeprägt, die Beteiligung der Masse am politischen Prozess nicht erwünscht. Sportvereine galten als Brutstätten für umstürzlerische Gedanken. Auch das kann man an Zahlen ablesen: Um 1860 und 1880 gab es regelrechte Gründerwellen. Davor und dazwischen waren Sportvereine immer wieder verboten. Begriffe wie Vereinsmeierei und Stammtischwesen klingen heute dumpf. Damals hätten sie zur Demokratisierung beigetragen, sagt Ammon. Der älteste Verein in Bayern "ist übrigens in Nürnberg gegründet worden", der Turn- und Sportverein von 1846.

Dass der Ministerpräsident wie er aus Nürnberg stammt und dass auch der Innenminister, in dessen Ressort der Sport fällt, ein Franke ist - Zufall, sagt Ammon. "Wenn man die Geschichte Bayerns betrachtet, haben die Franken den Bayern aber noch nie geschadet." Er lacht. In Anbetracht der Herausforderungen, vor denen der BLSV steht, muss es kein Nachteil sein, wenn man dieselbe Zunge spricht. Während sich die Gesellschaft kontinuierlich ausdifferenziert und individualisiert, tradierte Bindungen in Glaubensgemeinschaften, gewerkschaftlichen Organisationen, politischen Parteien und in der Familie schwinden, besitzt der Sport immer noch eine einigende Kraft. Ende 2019 verzeichnete der BLSV den höchsten Mitgliederstand seiner Geschichte: Zwei Drittel der Bevölkerung sind sportlich aktiv, ein Drittel davon im Verein. Und die Zahlen werden weiter steigen, glaubt Ammon, was an der wirtschaftlichen Prosperität Bayerns liege: "Bayern ist ein Zuwanderungsland." Dennoch: Die Gesellschaft wandelt sich. Statt Teamsport nach dem klassischen Schema Dienstag/Donnerstag Training und am Wochenende ein Spiel liegen Klettern oder Tanzen im Trend. Oder Gesundheitssport: "Prävention ist besser als Rehabilitation", sagt Ammon, ein Satz, wie er in jeder kassenärztlichen Praxis hängen könnte. Neben dem sozialen Strukturwandel werde sich der Klimawandel auswirken, Stichwort Wintersport. "Anpassungsdruck gibt es überall. Auch der Sport muss diese Veränderungen aufnehmen." Integration, Inklusion, Gleichstellung und Gewaltprävention gehören heute ebenso selbstverständlich zum BLSV-Alltag wie die Lizenzierung von Übungsleitern oder der Sportstättenbau.

Als Monopolverband ist der BLSV Teil des politischen Prozesses. Wie viel Macht er hat? "Macht ist ja zunächst mal nichts Negatives", sagt Ammon. Er meint: Gestaltungsmacht. "Wir haben rein gleichgeschlechtliche Sportvereine, wir haben jüdische Vereine, Vereine für Kinder und Jugendliche, solche für Senioren, reine Rehavereine, Gehörlosensportvereine und, und, und." In dieser Diversität sei die Bevölkerung Bayerns "heterogenst" repräsentiert. Bayern sei ein kultureller "Schmelztiegel", der Sport "das New York Bayerns".

Wer an den gesellschaftspolitischen Schalthebeln sitzt, muss aber auch Rechenschaft ablegen. Wie unabhängig ist der BLSV gegenüber den Interessen Dritter? Wie sanktioniert er Fehlverhalten? Bei viereinhalb Millionen Mitgliedern ist nicht zuletzt Datenschutz ein sensibler Bereich. Good Governance und Compliance seien auch im Sport Themen, sagt Ammon. Als einziger Landessportverband beziehe der BLSV "keine institutionellen Zuschüsse"; er finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen und dem Betrieb dreier Sportcamps; er untersteht dem Innenministerium und dem Obersten Rechnungshof als Kontrollinstanzen, intern wachen der Aufsichtsrat und der Wirtschaftsrat; er rechnet nach Handelsrecht ab und unterzieht sich einer Jahresabschlussprüfung; zudem gibt es Revisoren für jeden Bezirk. "Als Verein müssten wir das nicht tun", sagt der Finanzexperte Ammon. "Aber es ist richtig so." Die Fußball-WM 2006 - das "Sommermärchen", das von schwarzen Kanälen durchzogen war wie ein gut marmoriertes Steak von Fettadern - habe "erhebliche Nachwirkungen" gezeitigt. Die Penibilität scheint sich zu lohnen: In den zwölf Jahren, die Ammon dem Präsidium angehört, habe es keinen Fall gegeben, "der das öffentliche Interesse erregt hätte". Beim Thema Gewaltprävention zeigt sich indes, wie begrenzt die Macht des Verbandes bisweilen ist.

Joachim Herrmann

"Der Sport mit all seinen Facetten ist in Bayern fest im gesellschaftlichen Leben verwurzelt. In Zeiten der zunehmenden Individualisierung wirkt er wie eine Klammer und verbindet die Menschen. Dabei kann der BLSV seit nun schon 75 Jahren auf die Vielfalt und Leistungsfähigkeit der Sportfachverbände mitsamt den dahinterstehenden Sportvereinen bauen. (Mit seinen rund 12.000 Mitgliedsvereinen ist etwa ein Drittel der bayerischen Bevölkerung dort organisiert.) Der BLSV ist (somit) nicht nur der größte bayerische Sportdachverband, sondern auch ein bedeutender ,Player' im sportpolitischen und gesellschaftlichen Diskurs. Mit seinem Engagement (für den Sport) setzt sich der BLSV für die Gesundheit der Menschen ein und leistet Großartiges auf dem Feld der Integration und Inklusion. Im Sport kommt es manchmal eher auf die Schnellkraft an, manchmal mehr auf die Ausdauer. Beide Fähigkeiten hat der BLSV auch bei seiner Verbandsarbeit beeindruckend unter Beweis gestellt. Die vielfältigen Belange seiner zahlreichen Mitglieder (aus Sportfachverbänden, Anschlussorganisationen und Vereinen) - vom Freizeitsport bis hin zum professionellen Leistungssport - mögen mitunter herausfordernd sein. Dabei setzt sich der BLSV mit viel Geschick und Herzblut (seit vielen Jahrzehnten) erfolgreich dafür ein, dass Bayern in Bewegung bleibt und die Anliegen des Sports (das ihnen gebührende) Gehör finden. Ich (gratuliere dem BLSV zu seinem bemerkenswerten Jubiläum und) baue weiterhin auf ihn als starke und verlässliche Stimme des organisierten Sports (im Sinne seiner Verbands- und Vereinsmitglieder)."

Christian Mausbach

1 / 4
(Foto: Carmen Voxbrunner)

"In meiner nun fast zehnjährigen Zeit bei den Inklusionsfußballern des 1. SC Gröbenzell war die Unterstützung durch Verbände immer besonders wichtig. Wir bieten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsames Kicken von Menschen mit und ohne Behinderung an. Im März bekamen wir für unser herausragendes integratives Engagement die Sepp-Herberger-Urkunde in Berlin verliehen, das war ein tolles Erlebnis und bestärkt uns natürlich in unserer Arbeit. Besonders der Bayerische Fußball-Verband oder DFB-Stiftungen unterstützen uns sehr, mit dem BLSV gab es noch keine Berührungspunkte. Aber ich habe großes Interesse, das in Zukunft zu ändern. Das Jubiläum ist eine gute Gelegenheit, einen BLSV-Vertreter zu einem Training oder einem Turnier nach Gröbenzell einzuladen und uns so zu vernetzen. Vielleicht kann ich ja die etablierten Kontakte zum BFV nutzen, ich weiß, dass der BLSV Mittelfranken Inklusionsprojekte finanziell fördert. Seit September 2019 unterstützt uns ein 19-Jähriger im Freiwilligen Sozialen Jahr und er hat mir erzählt, wie toll er selbst in Corona-Zeiten vom BLSV betreut wird."

Felix Neureuther

2 / 4
(Foto: Felix Hörhager/dpa)

"Ich war in vielen Vereinen, im Fußball, Tennis, BMX, im Skiklub, Golf, ich war sogar im Fingerhakelverein. Vieles würde ohne den BLSV nicht funktionieren, viele Kinder hätten gar nicht die Möglichkeit, Sport zu treiben. Besonders schön am BLSV ist, dass er den Vereinssport wahnsinnig fördert, was sehr wichtig für unsere Gesellschaft ist. Deshalb ist dieser Verband ein absolutes Vorzeigeprojekt, das wir hier in Deutschland haben. Ich glaube, vielen jungen Sportlern ist das gar nicht so bewusst, die im Verein sind und einfach ihren Spaß haben. Aber wenn du älter wirst und selbst Kinder hast, wird dir klar, wie wichtig das ist. Auch für Erwachsene und bis ins hohe Alter - ich denke an die Ehrenamtlichen, die sich engagieren - ist das ein tolles Miteinander. Ich bin vom BLSV als übergeordnetem Organ für die Vereine begeistert und hoffe, dass er mit Engagement, Motivation und Mut noch viele Augen zum Leuchten bringt."

Laura Fürst

3 / 4
(Foto: Claus Schunk)

"Es gibt viel Informationsaustausch mit dem BLSV, da hat sich ein gutes Netzwerk gebildet. Wir haben auch in der Corona-Zeit immer wieder auf die Internetseite des BLSV geschaut, wegen der News zu Trainingsmöglichkeiten und Kontaktbeschränkungen. Wir fühlten uns dort mit Informationen versorgt, was gerade in dieser schwer planbaren Zeit wichtig ist. Im Audi Dome sollte in diesen Tagen eigentlich auch ein Demonstrationsspiel unseres Landeskaders im Rollstuhl-Basketball stattfinden, in Zusammenarbeit mit dem BLSV. Das ist leider Corona zum Opfer gefallen. Glücklicherweise können wir aber mit den München Iguanas seit vergangener Woche wieder trainieren, wenn auch möglichst kontaktlos und in sehr abgespeckter Form. Im Haus des Sports war ich noch nicht, aber Sebastian Gillsch, unser Landeskader-Trainer, und seine Co-Trainerin Birgit Meitner sind immer wieder dort zu Gesprächen."

Kurt Damaschke

4 / 4
(Foto: Florian Peljak)

"Die Gründungsväter und -mütter haben Weitblick gezeigt. Bei allen wichtigen Vorhaben wurden die Vereine voll unterstützt. Der SVN hat dies bei zwei großen Bauvorhaben selbst erfahren können. Die gesellschaftliche Bedeutung des BLSV ist unumstritten. Viele Vereine sind angewiesen auf einen starken Verband, damit sie die Corona-Zeit überstehen. Es geht um die Rettung des Breitensports. Bei manchen Fragen würden wir uns allerdings eine klarere Position und Unterstützung wünschen, beispielsweise bei der Rückforderung der Beiträge durch Mitglieder und der Öffnung der Schulturnhallen. Gerade für Großstadtvereine, die für Tausende Sportbegeisterte ein attraktives Angebot organisieren, droht der Verlust an Solidarität und Mitgliedschaft, wenn ihnen die Sporträume vorenthalten werden. Ein Vereinsleben, so wie wir es kennen, wäre ohne den BLSV nicht möglich. Der SVN steht dabei an seiner Seite."

Dominik Klein

"Ich war bei der großen Feier für einen aktiven Part eingeplant, aber die fällt ja leider aus. Als Marketingleiter beim Bayerischen Handballverband habe ich viele Berührungspunkte, das beginnt im Haus des Sports, wo wir Nachbarn sind. Der BLSV gibt wichtige Rahmenbedingungen vor, die Grundvoraussetzung, um erfolgreiche Arbeit zu leisten. Man findet dann gemeinsame Wege, um mit innovativen Ansätzen unsere Sportarten weiterzubringen. Gerade in Corona-Zeiten ist es wichtig, diese Botschaft weiterzutragen und Bayern sozusagen in Bewegung zu bekommen. Für uns ist der BLSV zudem Schnittstelle zum Ministerium, wir sind für jeden Einsatz dankbar. Und die Sportschule Oberhaching ist auch für uns eine wichtige Ausbildungsstätte. Ich freue mich auf weitere 75 Jahre, dass der BLSV den Sport weiter so unterstützt, weil das auch dazu beiträgt, die vielen Talente in Bayern halten zu können - gerade im Handball."

Vor wenigen Wochen wurde ein Fall in Ammons fränkischer Heimat bekannt, wo der Jugendleiter eines Yachtclubs Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg sexuell missbraucht haben soll. "Wir können nur Hilfestellung geben", sagt Ammon: Wie erkennt man Missbrauch? An wen kann man sich wenden? "Wir wollen sensibilisieren, Verständnis schaffen. Aber wir können kein Seelsorgetelefon sein." Vorsorge beginne bei der Ausbildung der Übungsleiter. Für alle 90 000 die Hand ins Feuer legen könnten sie nicht.

Den olympischen Gedanken zu bewahren, sei "definitiv" Aufgabe des BLSV, findet Ammon. Andererseits zeige der Blick in die Historie, dass es schon im alten Olympia "nicht immer fair zuging". Dem konservatorischen Gedanken wohnt ein pädagogischer inne. Man müsse die Idee einer sportlichen Auseinandersetzung möglichst früh "im schulischen Bereich implementieren", fordert er. Deswegen verbindet er mit den European Championships höchste Hoffnungen. Wenn Athletinnen und Athleten 2022 im Olympiapark in neun Sportarten ihre Europameister ermitteln, sei dies eine großartige Gelegenheit, "dass Kinder und Jugendliche erleben dürfen, wie Sportler fair um den Sieg kämpfen" - und das in nachhaltiger Weise auf den (sanierten) Anlagen von 1972. "Das wäre wunderbar, solche Herausforderungen lieben wir." Ammons Ideal von Sport als Schutzraum für ein faires Miteinander kommt nicht von ungefähr. Wer von Westen über den Mittleren Ring ins Münchner Zentrum steuert, fährt auf das "Haus des Sports" zu, unter dessen Dach die meisten der 56 im BLSV organisierten Fachverbände ihren Sitz haben. Wie eine vorgelagerte Trutzburg macht sich der Bau vor dem Olympiapark breit, diesem "wunderschönen" Gelände - etwa in gleicher Distanz zwischen dem Olympiastadion, wo die "heiteren Spiele" von 1972 begannen, und der Connollystraße, wo die Heiterkeit am 5. September ihr blutiges Ende fand. Mehr Symbolik geht nicht.

Die European Championships sind auch eine Chance, das ramponierte Image von sportlichen Großveranstaltungen aufzupolieren. Menschen in freiheitlich-demokratischen Ländern seien nicht mehr bereit, alles unreflektiert zu beklatschen. "Spiele in die letzten Winkel der Welt zu vergeben, nur weil sie dort noch nicht waren, ist keine sachlogische Begründung. Wir werden umgekehrt auch keine Wüste in München haben, nur weil hier noch nie eine war", sagt Ammon. Von Winterspielen in München, die zu erheblichen Eingriffen in die alpenländische Natur geführt hätten, habe sich "die Bevölkerung völlig zu Recht abgewandt". Hat der Sport die Menschen hypersensibilisiert? Fressen die Kinder der Demokratisierung den Sport?

"Sport ist Treiber und Getriebener zugleich", sagt Ammon, er stößt Veränderungen an und muss sich selbst verändern. Das fange bei Spielordnungen an und reiche über ökologische bis zu moralischen Aspekten. Und wie in der Politik wachse das Vertrauen in Organisationen wie das Internationale Olympische Komitee, den Fußball-Weltverband Fifa oder auch den BLSV immer und "untrennbar" mit den handelnden Personen. Er sagt es nicht. Aber er sieht sich nicht in einer Reihe mit Thomas Bach und Gianni Infantino.

Die Herausforderungen der Zukunft sind mannigfaltig. "Wir wollen die Vereine dabei unterstützen, dass sie Sport bestmöglich anbieten können." Zum Selbstverständnis des BLSV gehöre aber auch, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. Studien besagten etwa, dass die Zahl adipöser Kinder einen Höchststand erreicht habe. "Das können weder Politik noch Schule alleine lösen, das ist ein gesellschaftliches Thema", sagt Ammon. Der BLSV will auch dazu gerne seinen Beitrag leisten. Wo er den Verband in 25 Jahren sieht? Puh. "Vor 25 Jahren hat sich auch keiner vorstellen können, dass das Internet diese Bedeutung bekommt, dass es mal Smartphones gibt." Alles ist möglich. Auch erstmals eine Frau an der Spitze des Verbandes? Laut Geschäftsführer Kern sind 60 Prozent der 250 BLSV-Angestellten weiblich. Ammon lächelt. "Ich glaube, dass der BLSV jetzt schon reif ist für eine Frau an der Spitze. Das ist keine Frage des Geschlechts, sondern des Gestaltungswillens." So ein bisschen will er jetzt aber erst mal selbst gestalten. Er ist ja erst seit 2018 im Amt, seine Zeit soll noch kommen. Spätestens, wenn Corona gebannt ist wie die Abstiegsgefahr beim Club.

© SZ vom 18.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: