Wohnen:Mir kaufet alles

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Wenn es eng wird in der Stadt: In Ulm leben etwa 127 000 Menschen, Tendenz seit Jahren steigend. Das wirkt sich auch auf die Mietpreise aus. (Foto: imago/Ralph Peters)

Die Stadt Ulm versucht, Grundstückspreise bezahlbar zu halten und Bodenspekulanten auszubremsen - und gilt bundesweit als Modell.

Von Claudia Henzler, Ulm

Die roten Backsteinhäuschen mit ihren blühenden Gärten säumen nur noch drei kurze Straßenabschnitte. Es sind die pittoresken Reste einer Arbeitersiedlung, die vor fast 130 Jahren im Umfeld einer Hutfabrik entstanden ist, nicht weit von der Ulmer Altstadt und dem höchsten Kirchturm der Welt entfernt. Damals war die Industrialisierung in vollem Gange und die Stadt Ulm entschloss sich, selbst Unterkünfte für die vielen Arbeiter zu schaffen, die unter schlechten Bedingungen hausten. Die Stadt kaufte Grundstücke, baute kleine Doppelhäuser und verkaufte sie zu günstigen Bedingungen an Arbeiterfamilien weiter. Und um Spekulationen zu vermeiden, sicherte sie sich ein Wiederkaufsrecht. So entstand Ende des 19. Jahrhunderts in der Oststadt nicht nur die Siedlung "Untere Bleiche", es war auch der Beginn einer systematischen Boden- und Baulandpolitik, die bis heute bundesweit beachtet wird.

Keiner anderen Kommune gehören prozentual gesehen so viele Flächen ihres Gebiets wie Ulm: Etwa 4500 Hektar werden vom Liegenschaftsamt verwaltet, was 38 Prozent der Stadtfläche entspricht. Die Stadt betreibt eine aktive Vorratshaltung und gibt regelmäßig Geld aus, um neue Flächen zu erwerben - momentan 16 Millionen Euro im Jahr. "Wir kaufen fast alles, was wir kriegen können", sagt Tim von Winning, der im Rathaus als Dezernent und Dritter Bürgermeister für Stadtplanung zuständig ist. Die Kollegen vom Liegenschaftsamt seien nicht nur an Flächen interessiert, die später einmal Siedlungen oder Gewerbegebiete werden könnten, sagt Winning, sie bräuchten auch Äcker und Wiesen, die sich als Ausgleichsflächen eignen oder zum Tausch.

In Winnings Büro hängt ein riesiges Luftbild. Darauf kann er Besuchern zeigen, wo sich Ulms Entwicklungsgebiete befinden. Jene Gruppe von Wiesen und Feldern zum Beispiel, links vom bisherigen Siedlungsrand: Dort soll in einigen Jahren der neue Stadtteil "Auf der Kohlplatte" entstehen. Noch ist nicht entschieden, ob auf den 40 Hektar eher Einfamilienhäuser oder eine urbane Bebauung mit Mehrfamilienhäusern geplant wird, ob dort eher 2500 oder 6000 Menschen wohnen sollen. Es läuft der Diskussionsprozess, danach kommen die Bebauungspläne.

Wie immer werden Stadtverwaltung und Gemeinderat dabei einem Prinzip folgen, das zentral ist für die Ulmer Bodenpolitik: Neues Baurecht wird nur dann geschaffen, wenn der Boden der Stadt gehört. Für Landwirte bedeutet das, dass sie Bauerwartungsland quasi ausschließlich ans Rathaus verkaufen können. Wer nicht verkauft, kommt nicht in den Bebauungsplan. "Wir bezahlen fair", sagt Winning - im Durchschnitt 60 Euro pro Quadratmeter. Den günstigen Einkaufspreis gibt die Stadt beim Verkauf weiter. Es kommen lediglich die Kosten für Entwicklung und Erschließung oben drauf. "Wir wollen mit den Grundstücken kein Geld verdienen."

Für den Verkauf gilt in Ulm eine weitere Regel: Die Stadt lässt sich im Grundbuch ein Wiederkaufsrecht eintragen. Das wird bei privaten Käufern gelöscht, wenn sie das Haus zehn Jahre selbst bewohnt haben, bei Unternehmen, wenn die Gebäude bezugsfähig sind. Diese Praxis bremst Bodenspekulation, da die meisten unbebauten Grundstücke ja der Stadt gehören und es somit kaum Flächen gibt, die man zur Wertsteigerung liegen lassen könnte. Dieses Vorgehen ist aber nicht mit dem Erbbaurecht zu verwechseln, bei dem Flächen nie den Eigentümer wechseln. In Ulm dürfen Grundstücke mittelfristig zu jedem Preis weiterverkauft werden. Und es liegt auch allein im Ermessen der Wohnungsbauunternehmen, was sie für eine Eigentumswohnung verlangen - nicht immer schlägt der günstige Grundstückspreis am Ende durch.

Ulm verkaufe Flächen an profitorientierte Bauträger, bestätigt Winning. Das Erstzugriffsrecht habe jedoch die städtischen Wohnungsbaugesellschaft, die etwa 20 bis 30 Prozent eines Neubaugebiets bekäme. Ein weiterer Teil gehe an Genossenschaften und Baugemeinschaften. Und in jedem Fall greife Prinzip Nummer drei: Die Verkäuferin bestimmt, was auf ihren Grundstücken passiert. Vor zwanzig Jahren konnte deshalb in Ulm die damals größte Passivhaussiedlung Deutschlands entstehen. Und wenn sich Bauträger heute für das neue Quartier auf einem ehemaligen Kasernengelände bewerben, gelten etliche Kriterien zum sozialen und energiebewussten Bauen. Zusätzliche Ideen erhöhen die Chancen. "Wer uns den buntesten Blumenstrauß auf den Tisch stellt, der bekommt das Grundstück", sagt von Winning.

Einen Nachteil hat das Ulmer Modell übrigens auch: Es verlangt manchmal große Geduld. Mehr als 40 Jahre hat es gedauert, bis die Stadt alle Grundstücke für das neue Siedlungsgebiet "Auf der Kohlplatte" kaufen konnte.

© SZ vom 21.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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