Diversität im Tanz:"Ein System weißer Vorherrschaft"

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Jamar Roberts in seinem digitalen Solo "Cooped", das er für das Guggenheim Museum erarbeitet hat. (Foto: WPA Virtual Commissions)

Proteste schwarzer Tänzer und Choreografinnen prangern an, dass die Welt des Tanzes von Weißen dominiert ist.

Von Dorion Weickmann

Im vergangenen Jahr hatte Ayodele Casel einen Lauf. Mit 45 Jahren wurde die Stepptänzerin und Choreografin von der New York Times zu einem der "biggest breakout stars" gekürt, die Aufträge kamen wie von selbst. Dann rollte Corona heran und brachte New Yorks Kulturleben zum Erliegen.

Die afroamerikanische Bevölkerungsgruppe, der Ayodele Casel angehört, ist sowohl von Covid-19 wie von den wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns besonders hart getroffen. Das Erstarken der Black Lives Matter-Bewegung und die Proteste nach der Ermordung George Floyds haben der schwarzen Tanzcommunity indes jede Menge Rückenwind beschert. Dieses Mal scheint sie entschlossen, die privilegierten, sprich: weißen Bastionen zu stürmen.

In den sozialen Medien poppen neue Formate auf, eine Stiftung fördert die Aufarbeitung von "Erbe und Geschichte des schwarzen Tanzes in Amerika", Aktivisten melden sich zu Wort und fordern mehr Teilhabe ein - nicht zuletzt an Glanz und Glamour des Balletts, dessen Existenz coronabedingt indes ebenfalls wankt.

Auf TikTok werden Tänze kopiert ohne die Erfinder zu nennen

Ayodele Casel ist derweil in "Black Dance Stories" aufgetreten, einer neuen Zoom-Serie. Die Geschichte, die sie dort erzählte, spiegelt das Dilemma: Aneignung schwarzer Kultur bei gleichzeitiger Ausgrenzung ihrer Akteure. In Casels Fall war es Ginger Rogers, das blonde Stepp-Wunder der Dreißigerjahre, dem das Mädchen nacheifern wollte: "Unmöglich für eine wie mich, dunkelhäutig mit puerto-ricanischen Vorfahren! Bis ich kapiert habe, dass Stepp historisch auch in der Black Community wurzelt - das war für mich die Befreiung".

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Die Anerkennung ihrer kulturellen Leistungen ist für People of Color keine Selbstverständlichkeit. Auf TikTok etwa werden neue spannende Tänze schnell millionenfach kopiert, ohne das irgendwer die Erfinder nennt.

So machte die Influencerin Charli d'Amelio - weiß, 16 Jahre alt, 70 Millionen Follower - dort ein Tänzchen namens "Renegade" populär, die Erfinderin Jalaiah Harmon, 2,5 Millionen Follower, aber blieb vergleichsweise unbekannt. Bis sich die vierzehnjährige Schülerin aus Atlanta zu Wort meldete und Genugtuung verlangte, die ihr schließlich durch einen Auftritt bei der queeren Talkshow-Queen Ellen DeGeneres zuteil wurde. Es war das Signal eines Aufbruchs, den Corona weiter beschleunigte.

Der Körper als rebellisches Klageinstrument gegen Tyrannei und Terror

Denn während sich zahlreiche Elite-Ensembles mit Streamings und Zoom-Miniaturen über die Runden retteten, entstand mitten in der afroamerikanischen Szene ein bedrückendes Kunstwerk. Auf Einladung des Guggenheim Museum schrieb Jamar Roberts, der schwarze Hauschoreograf des Alvin Ailey American Dance Theater, sich selbst ein digitales Solo auf den Leib: "Cooped" zeigt einen Mann in Einzelhaft, einen Körper als rebellisches Klageinstrument gegen Tyrannei und Terror.

Der Vergleich mit einer Ikone der Tanzmoderne - Martha Graham und ihrer einsamen "Lamentation" von 1930 - ist nicht zu weit hergeholt. Jamar Roberts ist freilich eine Ausnahmeerscheinung, genau wie Misty Copeland, die afroamerikanische Ballerina des American Ballet Theatre, oder ihr Kollege Calvin Royal III: Sie haben sich an die Spitze durchgebissen, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Denn obwohl die Ballettdirektoren der Premiumkompanien längst erkannt haben, dass die allenthalben propagierte Diversität auch Hautfarbe und Abstammung einschließen muss, ist nicht nur der klassische Tanz dort noch immer ein weitgehend weißes Geschäft, auch ihre Dominanz in der Szene ist erdrückend.

Die Lage der Ensembles, die von Afroamerikanern geleitet werden und entsprechend besetzt sind, ist vergleichsweise desaströs. Das hat eine soeben veröffentlichte Erhebung der International Association of Blacks in Dance (ABD) für die USA ergeben: Selbst international renommierte Truppen wie das Alonzo King Lines Ballet darben finanziell und infrastrukturell.

Postkoloniale Durchleuchtung des Balletts

Diese Feststellung ist so wenig neu wie die Tatsache, dass das "American Negro Ballet" - 1937 in Harlem von einem deutschen Exilanten gegründet - und seine zahlreichen Nachfolger die Tanzszene nachhaltig beeinflusst haben. Einst orchideenhafte bis aufrührerische Spielarten wie Voguing oder Hip-Hop genießen längst Kultstatus und sind im Kanon der Künste angekommen.

Trotzdem ist Diskriminierung für schwarze Tänzer immer noch an der Tagesordnung. Erschwerend kommt hinzu, dass das Ballett sich schwer damit tut, sein Repertoire postkolonial zu durchleuchten. Dabei muss man weder Rede- noch Zeigeverbote befürworten, um eine Figur wie den Mohren in Igor Strawinskys "Petruschka" für kommentar- und historisierungsbedürftig zu halten.

Indes scheint die schwarze Community mehr denn je entschlossen, endlich mehr Teilhabe einzufordern. Zahlreiche Künstler haben unabhängige Initiativen ins Leben gerufen, die Gleichbehandlung fordern: bei Auditions, Castings, ja schon an der Schwelle zur Ausbildung, die das erste wichtige Nadelöhr ist, an dem viele scheitern.

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Die schärfste Resolution stammt wiederum von der ABD, die der "lieben weißen US-Tanzgemeinde" online die Leviten liest: "Ihr habt ein System weißer Vorherrschaft mit Privilegien, institutionellem Rassismus, Mikroaggressionen und Unterdrückung errichtet und bewacht es. Es ist an der Zeit, dass ihr dem ins Auge schaut. Wir haben genug. Euer Schweigen ist nicht länger akzeptabel." Ein gutes Omen, dass Wendy Whelan, die Künstlerische Direktorin des New York City Ballet und dessen weiße ehemalige Primaballerina, den Appell mitunterzeichnet hat. Was in ihrem Fall einer Art Selbstverpflichtung entspricht.

Auch in Europa mehren sich Signale für einen Kurswechsel. An der Pariser Oper, am Royal Ballet London, von München bis Berlin haben sich die Ballettkompanien in den letzten Jahren deutlich vielfältiger aufgestellt. Wie viel dennoch zu tun bleibt, lässt die fünfzehn Punkte umfassende Agenda ahnen, die Londons Ballet Black kürzlich publiziert hat. Alle neuralgischen Themen - von Typecasting bis hin zu verlogenen Marketingmaßnahmen mit farbigen Alibi-Tänzern - werden darin abgearbeitet. Der Schlusshinweis lautet: "This is a starter list". Also: alle mal loslegen, bitte!

© SZ vom 27.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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