Editorial:Leicht restauriert

Lesezeit: 3 min

Inmitten der Corona-Krise im Frühjahr schien es fraglich, ob in diesem Jahr überhaupt noch Sportevents stattfinden können. Nun leiten auch die Leichtathleten ihre Saison wieder ein - die möglicherweise von einem Wandel geprägt sein könnte.

Von Johannes Knuth

Das renommierte Magazin The New Yorker hat vor Kurzem in einem sehr interessanten Beitrag geschildert, wie Pandemien unsere Handlungen prägen und verändern. Kronzeugin des Autors war die Italienerin Gianna Pomata, eine emeritierte Geschichtsprofessorin aus Bologna, das schon im Mittelalter ein Epizentrum der Pest war und zuletzt auch fest vom düsteren Corona-Strudel erfasst wurde. "Einerseits wirkt eine Plage wie eine Säure", sagte Pomata mit Blick auf die historische Pest - Tote stapelten sich in den Straßen, Familien und Gesellschaften brachen auseinander. Andererseits versuchten viele Menschen, neue Beziehungen aufzubauen, so Pomata - "vielleicht sogar stärkere". Die Gefahr kitzele ja auch eine willkommene Reaktion hervor, die sie auch jetzt beobachte: Menschen fangen an, neu zu denken, besser zuzuhören, wie bei einer Art mentaler Restauration. Dass nach der Pest viele verkrustete Strukturen aufbrachen, habe jedenfalls eine der größten Errungenschaften der westlichen Zivilisation erst ermöglicht: die Renaissance.

Nun ist es natürlich viel zu früh und vielleicht gar naiv, von der Corona-Pandemie eine ähnlich segensreiche Wirkung zu erwarten. Und der Kommerzsport der Neuzeit ist ohnehin ein Kosmos für sich, in dem die Kluft zwischen Schein und Sein seit jeher gewaltig ist. Aber eine Pandemie, so folgerte der New Yorker in seinem Stück über die Geschichtsprofessorin Pomata, versorge uns ja immer auch mit einem "Röntgenbild einer Gesellschaft". Und tatsächlich meint man gerade auch im Kleinen zumindest ein paar jener Aspekte wiederzuerkennen, von denen Pomata sprach, und sei es nur in der Leichtathletik, die in diesen Tagen in leicht restaurierter Form in eine verspätete Wettkampfsaison aufbricht.

Im vergangenen Frühjahr, die Tokio-Spiele waren gerade um ein Jahr verschoben, wusste in der Szene noch niemand, ob in diesem Sommer überhaupt noch einmal Wettkämpfe würden stattfinden können. Nun, da fast alle Bundesländer ihre Corona-Regelungen gelockert haben, rollen tatsächlich wieder nationale und bald wohl auch wieder internationale Wettkämpfe los. In Regensburg fanden sich am Wochenende Hunderte Athleten beim deutschlandweit bislang größten Leichtathletik-Meeting zusammen bald stehen die nationalen Meisterschaften in Braunschweig an, die Diamond League in Monaco, und und und.

Selbstverständlich ist das alles keineswegs. Die Beteiligten müssen dabei schon für kleinere Meetings große Anstrengungen unternehmen - Stichwort: Hygienekonzept - und machen damit möglich, was in anderen Sportarten und Ländern gerade undenkbar ist. Und wenn man sich so umhört, spiegelt sich in vielen Äußerungen und Handlungen auch ein wenig von dem wieder, was Gianna Pomata erwähnte: Das Beste aus der Situation machen. Auch mal Geduld haben, statt rastlos von einem Wettstreit zum nächsten zu hecheln, unter dem Diktat von Normen und Erwartungen. Die Gelegenheiten schätzen, die man hat.

In den vergangenen Monaten war oft von systemrelevanten Metiers die Rede. Der Sport trat in diesen Aufzählungen meist nur als Gegenspieler auf, und es stimmt ja schon: Was hat eine Gesellschaft davon, wenn Menschen in Pandemiezeiten gegen einen Ball treten oder 400 Meter im Kreis laufen und am Ende an jenem Ort zu Boden sinken, von dem sie aufgebrochen sind? Aber das ist natürlich ein klitzekleines bisschen zu klein gedacht. Viele, meist steuergeldlich geförderte Athleten boten in der Pandemie Übungen zum Fitbleiben an, engagierten sich in ihren Gesellschaften, kritisierten die Missstände in ihren Sportverbänden, die von der Krise wie ein Kontrastmittel hervorgebracht wurden. Das erzählte immer auch von einer Aufgabe der Unterhaltungsmaschinerie Spitzensport, die bis vor der Pandemie oft in die Tiefen der Vergessenheit gerutscht war: jener als gesellschaftliches Gut.

Nun ist es natürlich viel zu früh, auch im Sport einen nachhaltigen Wandel zu erwarten. Ab dem kommenden Jahr werden die Verbände versuchen, das Verpasste so gut es geht nachzuholen, auch die Kalender in der Leichtathletik sind schon jetzt wieder vollgestopft. Diejenigen, die den Sport lenken, sind von mentaler Erneuerung eben doch meist so weit weg wie Neptun von der Sonne, das hat die Vergangenheit oft genug gezeigt. (Das Internationale Olympische Komitee brachte es jetzt tatsächlich fertig, eine unkritische Videocollage der Propagandaspiele von 1936 mit dem Slogan #StrongerTogether zu unterlegen.) Aber ein paar Trends werden sich künftig ja vielleicht doch halten - in der verspäteten, sogenannten "Late Season" der Leichtathleten und überhaupt. Dass es möglich ist, haben die vergangenen Wochen zumindest gezeigt.

© SZ vom 27.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: