Überlebensfragen:Ausgewachsene Probleme

Überlebensfragen: Abhijit V. Banerjee, Esther Duflo: Gute Ökonomie für harte Zeiten. Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Heike Schlatterer und Thorsten Schmidt. Penguin Verlag, München 2020. 560 Seiten, 26 Euro.

Abhijit V. Banerjee, Esther Duflo: Gute Ökonomie für harte Zeiten. Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Heike Schlatterer und Thorsten Schmidt. Penguin Verlag, München 2020. 560 Seiten, 26 Euro.

Abhijit Banerjee und Esther Duflo schreiben über " Gute Ökonomie für harte Zeiten".

Von Cornelius Dieckmann

Vor einigen Monaten, das Buch "Good Economics for Hard Times" von Abhijit Banerjee und Esther Duflo war gerade erschienen, wurden die Ökonomen in einem Interview gefragt, wovon sie denn redeten, die USA hätten doch nahezu einen historischen Tiefstwert der Arbeitslosigkeit erreicht. Die Forscher erwiderten, dass das mit Blick auf Europa etwas anders aussehe und dass sich Ungleichheit ohnehin nicht nur an Arbeitslosenquoten ablesen lasse. Dem heutigen Leser gegenüber ist solche Rechtfertigung nicht mehr nötig. Die "harten Zeiten" des Buchtitels sind unübersehbar. Allein im April verloren durch die Covid-19-Pandemie mehr als 20,5 Millionen Amerikaner ihre Jobs - so viele, wie seit der Großen Depression in einem Monat nicht mehr.

Die MIT-Wissenschaftler Banerjee und Duflo forschen seit Langem zur Armutsbekämpfung, wofür sie 2019 den Wirtschaftsnobelpreis erhielten. Ihr neues Buch entstand vor der Coronakrise, aber das mindert die Überzeugungskraft der Argumente nicht. Im Gegenteil. Kaum erwähne man, schreiben die beiden Ökonomen, "in einem Raum voller Wirtschaftswissenschaftler eine staatliche Intervention", höre man "leises Hohngelächter." Gegenwärtig lacht kaum noch jemand; staatliche Geldhilfen, auch für Privatpersonen, sind plötzlich weithin akzeptiert.

Nach der Großen Depression, die ein Viertel der US-Bevölkerung arbeitslos zurückließ, begann mit dem New Deal die Auffassung, Armut sei vor allem durch staatliche Eingriffe zu bekämpfen. Erst Ronald Reagan verkündete 1981, der Staat sei nicht die Lösung, sondern das Problem. Die Reagonomics mit all ihrer Trickle-Down-Treue halten sich bis heute nicht nur im Wirtschaftsdenken Donald Trumps. Die Autoren ziehen eine Parallele zu Duflos marktliberal regiertem Heimatland Frankreich: "Trotz der offensichtlichen Unterschiede erlebt man bei Macron einen sehr Reagan-ähnlichen Ton." Ungeachtet "überwältigender Gegenbeweise hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass Sozialhilfe Armut verursacht".

Die Krise könnte das ändern. Banerjee und Duflo fordern einen starken, aber nicht paternalistischen Staat, der seinen armen Bevölkerungsschichten den Umgang mit Geld zutraut. Dieses Vertrauen fehle, bis hin zur Menschenverachtung: "Das Ziel der Sozialpolitik in diesen Zeiten des Wandels und der Anspannung sollte darin bestehen, den Menschen zu helfen, die Umbrüche zu verkraften, ohne ihr Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen." Im bestehenden System sei das leider nicht vorgesehen. So schlug vor einigen Jahren ein Abgeordneter aus Arizona vor, die Karten für Empfänger von Lebensmittelgutscheinen - ohnehin Sozialhilfe auf Umwegen - im selben Orangefarbton zu gestalten wie Gefängnisuniformen. Banerjee und Duflo sprechen von einer "Pädagogik der Bloßstellung" an.

Wirtschaftswachstum kann Ungleichheit mindern - aber nur unter bestimmten Bedingungen

Für das oft gehörte Argument, ein bedingungsloses Grundeinkommen verleite zum Nichtstun, sehen die Ökonomen keine Belege. Dennoch äußern sie im Fall reicher Länder eine gewisse Skepsis: "Wenn wir mit der Annahme richtig liegen, dass die wahre Krise in den reichen Ländern darin besteht, dass viele Bürger, die sich früher als Teil der Mittelschicht betrachteten, ihr Selbstwertgefühl verloren haben, das sie früher aus ihrer Arbeit bezogen, dann ist ein bedingungsloses Grundeinkommen keine Lösung." Für arme Länder befürworten sie ein "rudimentäres Grundeinkommen", das auch für die dringend benötigte Geldzirkulation sorgen würde.

Dass das Buch Covid-19 nicht kennt, bedeutet angenehmerweise auch, dass es keine monothematische Brennpunktperspektive einnimmt. Zwar gehen Banerjee und Duflo auf den erfolgreichen Umgang mit Pandemien am Beispiel der Malariabekämpfung durch die kostenlose Verteilung von Insektennetzen ein. Aufschlussreich sind aber auch die Kapitel über urbane Luftverschmutzung oder die Mär von der wirtschaftlichen Bedrohung durch Migranten.

Höchst präsent ist auch gegenwärtig die Debatte um das Wirtschaftswachstum. Duflo und Banerjee sind Wachstumskritiker, wenngleich nicht unbedingt Gegner von Wachstum, wie es sie unter Fachkollegen, etwa mit dem britischen Ökonomen Tim Jackson, durchaus gibt. Sie räumen ein, dass ein steigendes BIP soziale Ungleichheit abbauen kann, wenn Regierungen in Schulen oder Krankenhäuser investieren, kritisieren aber die beliebte Gleichsetzung von Wachstum und Lebensqualität. Durch die jüngsten Entwicklungen - China, die zweitgrößte nationale Volkswirtschaft, hat in diesem Jahr erstmals seit 1990 kein Wachstumsziel verkündet - hat ihre Herangehensweise unfreiwillige Aktualität erhalten. Staaten müssen auf längere Sicht lernen, Wohlstand ohne oder mit nur geringem Wachstum zu denken. Diese Fähigkeit kann auch abseits akuter Krisen nachhaltigen von Nutzen sein.

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