"Lost Places":Die Schönheit des Vergehenden

Schaurig-schön und gefährlich: Der Trend um Lost Places

Die Fotografin Jeannette Fiedler reist regelmäßig an verlassene Orte, um dort zu fotografieren.

(Foto: Carolin Gissibl/dpa)

Bröckelnder Putz, kaputte Fensterscheiben: Verlassene Orte sind ein beliebtes Ziel für Fotografen. Doch der Trend zu heruntergekommenen Gebäuden birgt Gefahren.

Die Totenbahre in dem staubigen Raum ist leer. Über einem Stuhl hängt der Kittel eines Bestatters - als hätte er nur mal eben den Raum verlassen. Dabei sind Jahrzehnte vergangen, seitdem der letzte Tote in dieser Leichenhalle in Brandenburg gewaschen wurde. Durch die Gänge irren jetzt nur noch vereinzelt Fotografen, so wie beispielsweise Jeannette Fiedler. Die 49-Jährige aus der Nähe von Kronach in Franken sucht seit gut fünf Jahren regelmäßig an verlassene Orte auf, sogenannte Lost Places. Um dort Aufnahmen zu machen, stapft sie sogar durch Morast oder sie klettert in Stollen hinein. Sie knipst in früheren Gefängnissen, Schulen, Krematorien und in verlassenen Schwimmbädern. Es sind Orte, die einst belebt waren. Orte voller Geschichte. Perfekte Orte für außergewöhnliche Fotos.

"Wir wollen als Fotografen den Verfall in Kunst transferieren. Wollen die Schönheit des Vergehenden herausarbeiten", beschreibt Fiedler ihr ungewöhnliches Hobby, das sie mit Menschen auf der ganzen Welt teilt. "Urbexer" nennen sich die Anhänger dieses Trends, die den morbiden Charme verfallener Gebäude auf Fotos festhalten.

Schaurig-schön und gefährlich: Der Trend um Lost Places

Vermeintlich ästhetischer Verfall - wie hier in einer Leichenaufbewahrungshalle in Brandenburg.

(Foto: dpa)

Ästhetik statt Kicks und Klicks

Die Bilder werden auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram unter dem Hashtag #lostplaces gepostet. Auf den Fotos sieht man oft, wie der Putz von den Wänden bröckelt, wie sich dicker Staub auf den Treppen wölbt, dazu Fenster, die eingeschlagen sind, es sieht nicht selten aus wie in Gruselfilmen oder Mystery-Serien, manchmal posieren Halbnackte vor den Ruinen.

Letzteres verpöne die Gruppe, in der sie verkehrt, sagt Fiedler. Ihre Gemeinschaft führe vor allem die Neugierde, geschichtliches Interesse und die besondere Atmosphäre und Ästhetik an verlassene Orte. Offensichtlich tummelt sich in den sozialen Netzwerken aber eine weitere Gruppe. Ihre Ambition scheint eine andere zu sein: der Reiz des Verbotenen, der Kick - oder eben die Klicks im Netz.

Viele dieser brachliegenden Gelände gehören privaten Eigentümern, und deshalb ist das Betreten ohne deren Zustimmung nicht erlaubt. Rechtlich gesehen bewegen sich die Besucher am Rande der Legalität, sie könnten durchaus wegen Hausfriedensbruchs belangt werden. "Manche sind nicht nur mit der Kamera unterwegs, sondern führen auch Werkzeug mit - um sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen", erzählt Fiedler. Dabei gelte unter Urbexern der Grundsatz: nicht einbrechen, nichts kaputt machen, nichts stehlen.

Lost Places: Unfälle sind keine Seltenheit

Immer wieder meldet die Polizei Unfälle auf verlassenen Geländen: Im Juni stürzte ein 18-Jähriger in der Ruine eines Guthofs im unterfränkischen Landkreis Kitzingen durch eine marode Betondecke circa drei Meter in die Tiefe und verletzte sich schwer. Ebenfalls schwer verletzt wurde ein 34-Jähriger im Februar in Erfurt. Nach einem Sturz landete er auf einer Metallplatte mit herausstehenden Schrauben. Vor drei Jahren musste in Leipzig ein damals 30-Jähriger knapp zwölf Stunden schwer verletzt und bei Minusgraden in einem Schacht ausharren, weil er ein Loch in einer seit über zwanzig Jahren leer stehenden Bowlinghalle übersah.

Ein tragischer Unfall ereignete sich Mitte Juli in Nordrhein-Westfalen: Eine 22-jährige Frau aus dem Raum Köln wollte sich mit zwei Freunden offenbar die Industrie-Ruine im Bochumer Westpark ansehen. Bei dem nächtlichen Besuch brach die junge Frau plötzlich zusammen. Einsatzkräfte mussten mit Motortrennschleifer, Bolzenschneider und einem Spreizgerät die Zäune und die Stacheldrahtbahnen entfernen. Sie konnten die Frau erst nach mehreren Stunden bergen. Sie wurde zwar wiederbelebt - starb kurz danach aber im Krankenhaus. Die junge Frau war nicht der erste Todesfall in diesem Industriepark. Die Feuerwehr, die bei der Bergung im Juli in Bochum beteiligt war, hat in einem Video öffentlich vor Lost Places gewarnt: Nicht nur die maroden Industrieanlagen seien gefährlich, sondern auch dortigen Atemgifte, die auf den ersten Blick nicht sichtbar seien.

Jeannette Fiedler betritt Gelände und Gebäude nach eigenen Worten grundsätzlich nur dann, wenn sie offen stehen oder leicht zugänglich sind. Sie ziehe nie alleine los und hole sich mittlerweile eine Genehmigung oder buche eine Tour. Denn auch Anbieter haben die verlassenen Orte und den neuen Markt dahinter entdeckt, bieten legale Foto-Touren an.

Auf Plattformen wie Youtube verbreiten sich Videos über Lost Places viral. Hunderttausende Aufrufe verzeichnet etwa die Aufnahme eines Youtubers (ItsMarvin) über ein seit zehn Jahren verlassenes Krankenhaus in Büren bei Paderborn. Darin ist zu sehen, wie er mit einem Begleiter Patientenakten findet. Die Polizei nahm in dem Fall eine Strafanzeige wegen des Verdachts auf Hausfriedensbruch auf. Der Youtuber sprach dagegen davon, einen Datenskandal aufgedeckt zu haben. Die Fotogemeinschaft, in der Jeannette Fiedler verkehrt, distanziert sich von Einbrüchen. "Wir betreten die Räume still, achtsam und mit Respekt", sagt Fiedler. "Wir fassen nie etwas an, und allein unsere Eindrücke, Erinnerungen und Bilder nehmen wir mit."

Zur SZ-Startseite
Wustrow an der Ostsee

SZ PlusWustrow an der Ostsee
:Der verbotene Strand

Steilufer, Naturschutz und Nazi-Munition im Boden: Die zehn Kilometer lange Halbinsel Wustrow an der Ostsee ist seit Jahrzehnten Sperrgebiet. Nun darf man wieder hin.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: