Belarus:Tichanowskaja fordert von EU Nichtanerkennung der Wahl Lukaschenkos

Er habe "jede Legitimität in den Augen des Volkes und der ganzen Welt verloren", sagt die Oppositionelle über den Präsidenten. Die Staats- und Regierungschefs der EU sprechen am Mittag über die mutmaßliche Wahlfälschung und die Proteste in Belarus.

Die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja hat die Europäische Union vor dem EU-Sondergipfel zur Lage in Belarus zur Nichtanerkennung der Wahl von Staatschef Alexander Lukaschenko aufgerufen. Die Abstimmung am 9. August sei gefälscht gewesen, sagte sie in einer am Mittwochmorgen veröffentlichten Videoansprache. "Lukaschenko hat jede Legitimität in den Augen des Volkes und der ganzen Welt verloren."

Die Staats- und Regierungschefs haben sich angesichts der Massenproteste in dem Land zu einer außerplanmäßigen Videokonferenz am Mittwochmittag verabredet. Es soll um die Frage gehen, wie Lukaschenko dazu gebracht werden kann, in einen Dialog mit Opposition und Gesellschaft in der früheren Sowjetrepublik einzutreten. Seit mehr als einer Woche gehen die Menschen landesweit gegen ihren Staatschef auf die Straße. Auch am Abend gab es in der Hauptstadt Minsk stundenlange Proteste. Die bislang größten Proteste hatte das zwischen Russland und EU-Mitglied Polen gelegene Land am Sonntag erlebt. Hunderttausende beteiligten sich an den Aktionen.

Auslöser der Krise im Land war die Präsidentenwahl vor mehr als einer Woche, die von massiven Fälschungsvorwürfen überschattet wurde. Viele haben erhebliche Zweifel, dass Lukaschenko tatsächlich mit mehr als 80 Prozent der Stimmen haushoch gewonnen hat. Die Oppositionelle Tichanowskaja nimmt einen Sieg für sich in Anspruch. Die EU wirft Lukaschenko vor, die Präsidentenwahl gefälscht zu haben und mit Einsatz von Gewalt die Versammlungs-, Medien- und Meinungsfreiheit einzuschränken. Bereits am Freitag hatten die Außenminister deswegen neue Sanktionen auf den Weg gebracht.

Russlands Präsident Putin warnt EU-Spitzenpolitiker vor Einflussnahme auf Belarus

Tichanowskaja sprach in ihrem Video von Hunderten Verletzten und mindestens zwei Toten durch Polizeigewalt. "Die zweite Woche in Folge kämpft meine Nation um ihr verfassungsmäßiges Recht, ihre Anführer zu wählen", sagte die 37-Jährige. Die Wahlen seien weder fair noch transparent gewesen, Lukaschenko klammere sich an die Macht. Die Bürger, die zur Verteidigung ihrer Stimmen auf die Straße gingen, "wurden brutal geschlagen, eingesperrt und durch das Regime gefoltert", sagte sie auf Englisch in einer trauerschwarzen Umgebung. Sie war aus Angst um ihre Sicherheit und die ihrer Kinder ins EU-Nachbarland Litauen geflüchtet. In dem Video war oben rechts auch die historische weiß-rote Flagge von Belarus zu sehen, die die Opposition für sich nutzt. Im Falle eines Machtwechsels dürfte dies die neue Staatsflagge von Belarus werden. Lukaschenkos Unterstützer tragen die offizielle rot-grüne Staatsfahne.

Um einen friedlichen Machttransfer in dem Land zu sichern, habe sie die Gründung eines Koordinierungsrates auf den Weg gebracht, so Tichanowskaja. Das Gremium mit Vertretern der Zivilgesellschaft solle noch am Mittwoch zu seiner ersten Sitzung zusammenkommen. International bekannteste Vertreterin ist die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Der Koordinierungsrat strebe einen Dialog mit dem jetzigen Machtapparat an, sagte Tichanowskaja. Lukaschenko hatte der Opposition dagegen vorgeworfen, illegal die Macht an sich reißen zu wollen. Der Koordinierungsrat arbeite mit dem Ziel, umgehend faire und demokratische Neuwahlen für das Präsidentenamt auszurufen - mit internationaler Beobachtung, wie es sie am 9. August nicht gegeben hatte. "Verehrte Anführer Europas, ich rufe Sie dazu auf, das Aufwachen von Belarus zu unterstützen", sagte Tichanowskaja und betonte, dass es hier um eine Anerkennung internationalen Rechts des Volkes gehe, seine eigene Wahl zu treffen.

Russlands Präsident Wladimir Putin warnte unterdessen bei mehreren Telefonaten mit Spitzenpolitikern der EU vor Einflussnahme aus dem Ausland auf Belarus. Das könnte die Lage verschlechtern, meinte er dem Kreml zufolge bei einem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Lukaschenko hatte wiederholt das Ausland für die Proteste in seinem Land verantwortlich gemacht. Konkret beschuldigte er etwa Polen und die Ukraine, ohne aber Beweise vorzulegen. Am Abend gab er bekannt, dass die Armee an der Westgrenze in Gefechtsbereitschaft versetzt worden sei. Dort laufen auch Militärübungen.

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