Flüchtlinge in Deutschland:Zwei von Hunderttausenden

Bavaria Complains As Austrians Shuttle Migrants To Border Region

Tausende kamen jeden Tag: Flüchtlinge werden im Oktober 2015 an der deutsch-österreichischen Grenze bei Wegscheid in Niederbayern zu einer Registrierungsstelle geleitet.

(Foto: Johannes Simon/Getty Images)

2015 brachen Nashed und Walid aus dem Bürgerkriegsland Syrien auf Richtung Europa. Nashed hat zügig Fuß gefasst, Walid gefährliche Umwege genommen. Zwei Schicksale, die für viele stehen, die Aufnahme in Deutschland fanden.

Von Constanze von Bullion und Henrike Roßbach

Manchmal liegt nur ein Blatt Papier zwischen dem Weg nach oben und dem Abseits, irgend so ein Schreiben vom Amt. Manchmal ist es aber auch die Kraft, die plötzlich versiegt, als hätte jemand den Hahn zugedreht.

"Ich hab einfach Scheiße gebaut", sagt Karim Walid, der sich jetzt manchmal fragt, wie er in diesen ganzen Schlamassel hineingeraten ist und wieder heraus.

"Ich wollte kein Gast sein", sagt Mohamad Ghayth Nashed, der lieber andere bewirtet, als sich bewirten zu lassen.

Walid und Nashed, das sind zwei von Hunderttausenden, die 2015 aus dem Bürgerkriegsland Syrien aufgebrochen sind Richtung Europa. Nashed hat zügig Fuß gefasst, Walid hat gefährliche Umwege genommen. Und keiner von beiden hat auch nur geahnt, was das "Wir schaffen das" von Angela Merkel bedeuten würde.

Fünf Jahre ist es her, dass die Kanzlerin diesen Satz bei einer Pressekonferenz ausgesprochen hat. Fortan wurde gestritten, nicht nur in Deutschland, ob Merkels Entscheidung, die Grenzen für Geflüchtete nicht zu schließen, ein Riesenfehler war oder eine vorbildliche Leistung. Fast immer ging es dabei um die Frage, wie die aufnehmenden Gesellschaften mit Geflüchteten fertig werden. Was die Ankommenden zu schaffen hatten, rückte in den Hintergrund. Dabei waren es nicht nur Geschichten vom Gelingen.

Wer Ghayth Nashed fragt, wie er nach Berlin gekommen ist, sieht in ein Gesicht mit grau meliertem Vollbart, mit Hipster-Knoten im Haar und einem unbekümmerten Lachen. Wie es war unterwegs? "Ganz normal, mit dem Boot." Und dann freut er sich, als sei das irgendein Abenteuer gewesen, nichts weiter. Dass das Boot ein Schlauchboot war, dass er drei Anläufe brauchte, um von der Türkei zur griechischen Insel Lesbos kommen, dass er kenterte und Stunden im Meer trieb, nun ja. Der 35-Jährige findet das nicht weiter bemerkenswert. So wie er waren 2015 Hunderttausende unterwegs.

Nashed steht mit Schürze in seinem Imbisswagen und stellt einen "Syrischen BBQ-Teller" zusammen. "Mit Alufolie?", fragt er. Hähnchenspieße, scharfe Paprikapaste, Bratwürstchen mit Hummus und Pinienkernen - er ist Inhaber einer Streetfoodfirma, tourt mit seinem Wagen durch Berlin. Vor drei Jahren hat er die Firma gegründet, ohne Kapital, mit zwei anderen Geflüchteten. Als den anderen das Risiko zu groß wurde, übernahm er allein Verantwortung, sagt er. "Ein Entrepreneur hat eben einen eigenen Charakter."

Ghayth Nashed ist, wenn man so will, mit Siebenmeilenstiefeln angekommen im neuen Leben. Nur dass Ankommen ein dehnbarer Begriff ist. Nashed plant jetzt einen stationären Imbiss, eine Feinkostmarke, einen Großhandel. Bab al-Jinan, der Name seines Unternehmens, heißt übersetzt "Tor zum Paradies". Er weiß, dass dieses Tor sich nicht jedem gleich öffnet.

Am Weigandufer in Berlin sieht Neukölln noch aus wie Neukölln, jedenfalls da, wo Karim Walid sich auf einer Bank niederlässt. In ein Café will er nicht, zu laut, zu teuer, und es muss auch nicht jeder hören, was er zu erzählen hat. Karim Walid heißt eigentlich anders, er ist 28 Jahre alt und ein Mann, nach dem Frauen beim Vorbeigehen schon mal die Köpfe drehen. Walid war vierzehn, als er abgehauen ist aus seinem Elternhaus in Damaskus. Damals lebt sein Vater noch, ein in Syrien geborener Palästinenser, dessen vier Kinder statt einer Staatsangehörigkeit nur ein Ersatzpapier besitzen. Die Familie arbeitet sich zu bescheidenem Wohlstand hoch, bis der Krieg kommt und Syriens Palästinenser in Armut und rechtliche Ungewissheit zurückgebombt werden.

Stillhalten, "wenn du was sagst, landest du im Gefängnis", warnen die Eltern ihren einzigen Sohn. Karim Walid ist kein Widerstandskämpfer, aber er gehört zur Generation Arabischer Frühling, die aufmucken will gegen Diktatoren wie Baschar al-Assad, gegen Korruption, sexuelle Unterdrückung, Gewalt, die Alten. "Es gab immer Schwierigkeiten", sagt er und meint den Streit mit den Eltern. Es geht da um Frauen, um Geld, die Partys.

"Ich wollte kein Gast sein"

Als der Krieg Damaskus erreicht, schlägt Walid sich auf der Straße durch. Dann stirbt der Vater, plötzlich muss er für die Mutter und drei Schwestern sorgen. Der Freundeskreis zerfällt, es kommt zu Verhaftungen, viele gehen oder arrangieren sich mit der Obrigkeit. Im September 2015 geht auch Karim Walid. Den Namen Angela Merkel hat er da noch nie gehört. Er will nach Norwegen, ertrinkt fast in der Ägäis, friert sich durch kroatische Berge, landet in einer Berliner Turnhalle. Geschafft, denkt er. Aber so ist es nicht.

Für Tausende beginnt damals eine Odyssee durch die deutsche Bürokratie. Woche um Woche stehen sie in verstopften Behörden, kämpfen mit fehlerhaften Bescheiden, einem überforderten Staat.

Auch Ghayth Nashed, der heute die Cateringfirma hat, bahnt sich damals einen Weg durch Berlin. Vor der Flucht hat er als Vertriebsberater in Saudi-Arabien gearbeitet, dorthin war er schon 2010 geflohen, weil er nicht in Assads Armee dienen wollte. Als er aufbricht nach Europa, kann er Englisch, hat einen Uniabschluss in Betriebswirtschaft. Er packt zwei GPS-Handys ein und ein paar Tausend Euro. "Ich habe gelernt, dass man mit einer guten Vorbereitung auch in schwierigen Situationen ruhig bleiben kann", sagt er. Ein Flüchtling ist das, der mit leichterem Gepäck reist als die vielen, die sich mittellos und traumatisiert auf den Weg machen.

Erstaufnahme-Einrichtung für Flüchtlinge in Dresden

Zahlreiche Bundesbürger meldeten sich freiwillig, um Flüchtlingen zu helfen: Erstaufnahme-Einrichtung des Deutschen Roten Kreuzes in Dresden Anfang Dezember 2015.

(Foto: Oliver Killig/dpa)

Und das Glück bleibt an seiner Seite. In Berlin muss Nashed nicht in eine Massenunterkunft, sondern wohnt bei seinem Cousin. Er beginnt, ein Netzwerk zu knüpfen, nimmt Kontakt auf zu Flüchtlingsorganisationen, die ihm mit der Bürokratie ebenso helfen wie mit seiner Idee von einer eigenen Firma. Er will Deutsch lernen, aber kein Mitleid. "Ich wollte auf Augenhöhe sprechen", sagt er. "Und ich wollte kein Gast sein. Ich wollte mit den Menschen hier zusammenleben und bleiben."

Auf der Bank in Neukölln dreht Karim Walid seine nächste Zigarette, bevor er zum schwierigeren Teil seiner Geschichte kommt. Auch er kann Englisch und findet damals schnell Freunde, arbeitet für die Flüchtlingshilfe. Er verliebt sich in eine Deutsche, sie verlässt ihren Freund, er zieht zu ihr, lernt Deutsch und ein unbekümmertes Leben in Freiheit kennen. Was er nicht bemerkt: dass sein Ballast schwerer ist, als er meint - und seine deutschen Freunde besser trainiert sind im Umgang mit Alkohol und Drogen. An Wochenenden nehmen sie ihn mit zu Festivals, in der Woche lernt er fürs Studienkolleg, damit er an die Uni darf. Seine Freundin bemerkt, dass er Albträume hat und von Ängsten gejagt wird. Sie fragt sich, was passiert ist damals, bevor Walid ausriss von zu Hause, mit vierzehn.

2018 kommt dann der Uni-Bescheid, man bedaure. Betriebswirtschaft könne er vorerst nicht studieren. "Da bin ich in einer tiefen Depression gelandet", sagt er. "Ich habe viel zu viel gekifft und zu viel Koks genommen." Speed, Ecstasy - Walid dröhnt sich zu, hört auf zu essen, redet wirres Zeug. Er verschwindet tagelang, Freunde befürchten einen Suizid. Ein Jahr geht das so, rein in die Klinik, raus aus der Klinik, wieder Drogen, dann Obdachlosenheim. "Ich war selber schuld", sagt er.

Einer von drei Geflüchteten gilt als psychisch stark belastet, so eine Untersuchung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Psychologen fordern mehr Therapieplätze für Menschen, die nach der Flucht zwar physisch fit, aber psychisch angeschlagen sind. Es fehlt aber nicht nur an Geld. Zuzugeben, dass man Hilfe braucht, ist gerade für geflüchtete Männer oft eine Riesenhürde.

Vor allem, wenn andere Weltenwanderer so viel schneller vorankommen. Ghayth Nashed, der mit dem Imbisswagen, hantiert inzwischen mit Begriffen wie "Konzeptentwicklung", "Dachmarke", "Businessplan". Geschafft? "Ich wusste nicht, wie schwierig es sein würde auf praktischem Niveau", sagt er.

Und Karim Walid? "Ich bin stolz", sagt er. Irgendwie hat er sich aufgerappelt. Seit zehn Monaten lebt er ohne Drogen, hat Arbeit gefunden, ein Fernstudium begonnen. Sein Zuhause ist jetzt ein blitzordentliches Zimmer bei einem Freund, jedenfalls vorerst. Auf dem Schreibtisch steht ein etwas abgekämpfter Strauß Rosen.

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