Ausstellung zur Bergwacht:"Bergeswelt darf nicht zum Tummelplatz schamlosen Gelichters werden"

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Mit VR-Brille vor der Nase können sich Besucher simuliert in einem Bergsack retten lassen. (Foto: Sebastian Gabriel)

Vor 100 Jahren wurde die Bergwacht gegründet, heute hat sie Tausende Mitglieder. Eine Ausstellung zeigt moderne Technik und unvergessene Pioniere.

Von Dominik Hutter

Es geht aufwärts. Der Bergesack wird an einer Kette nach oben gezogen, es schaukelt ein bisschen. Links und rechts sind Bäume und Berge im Nebel erkennbar, Wind pfeift. Irgendwann ist der Boden weit entfernt, ein See ist zu sehen und man hört Stimmen - Verhaltenshinweise, beruhigende Worte und Funksprüche. Am anderen Ende der Kette knattert ein Hubschrauber. Eigentlich wäre dies keine angenehme Situation: Rettung aus Bergnot, und dann unten am Hubschrauber hängend ab in die Unfallklinik Murnau.

Sebastian Nachbar und Matthias Leitner aber wollten bewusst keine bedrohliche Situation schaffen, keinen volksfesttauglichen Grusel-Event. Eher geborgen solle man sich fühlen in der Simulation, für die man in einem echten, per Hand angestubsten Bergesack liegt, Hubschrauber und Bergwelt aber nur in den Bildern der VR-Brille existieren. Virtual Reality. Tatsächlich wirkt die Tour am Bergeseil eher meditativ, für den unverletzten Testgeretteten eigentlich angenehm. Eine Art Aussichtsflug im Liegen. Ganz zum Schluss geht es sogar noch träumerisch über die Wolken hinaus, in den dunklen Weltraum, wo einem die hell erleuchteten Metropolen Europas zu Füßen liegen. Madrid, Paris, London, der Großraum Mailand. Es folgt der Abspann, Brille und Rettungssack kommen weg. Ach ja: München, Praterinsel.

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Ausgetüftelt haben die virtuelle Hubschrauberrettung die Technikexperten des Bayerischen Rundfunks. Das Angebot zum Selbstversuch ist Teil der Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum der Bergwacht, die aktuell im Alpinen Museum zu sehen ist. 100 Jahre auf 100 Quadratmetern, sagt der Münchner Bergretter und Mitinitiator Henrik Vogel.

Er selbst verbringt zahlreiche Wochenenden in Bereitschaft auf der Maxlrainer Hütte oberhalb des Spitzingsees - die Anfahrt von München aus wäre im Ernstfall einfach zu zeitraubend. Dort wird trainiert und manchmal auch einfach Frisbee gespielt. Bis der nächste Notruf kommt. Natürlich kommt nur in einem Bruchteil der Fälle ein Hubschrauber zum Einsatz, die Bergretter müssen meistens zur Unglücksstelle aufsteigen. Mitsamt dem Material, an dem die Helfer oft schwer zu schleppen haben.

So wie 1957, so erfährt der Ausstellungsbesucher an einer Stellwand, an der zwei Puppen eine Rettung am Seil demonstrieren. Für die Münchner Bergwacht zählt jenes Ereignis zu den legendären Leistungen der Vergangenheit - die erste erfolgreiche Rettung eines Kletterers aus der verschneiten Eiger-Nordwand. Vollbracht unter Ägide des damaligen Münchner Bergrettungs-Chefs Ludwig Gramminger. Der startete, obwohl die Situation als hoffnungslos galt, mit einem VW-Bus ins schweizerische Grindelwald. Sein Team schleppte unter schwierigsten Bedingungen ein Stahlseil auf den Gipfel und seilte einen Retter ab, der einen seit Tagen in der Wand festsitzenden Italiener bergen konnte. Drei weitere Bergsteiger konnten nicht mehr gerettet werden und kamen ums Leben, nichtsdestotrotz gilt die Pioniertat als großer Erfolg.

Informationstafeln erklären die Welt der Bergwacht seit ihren Anfängen. (Foto: Sebastian Gabriel)

111 Bergwacht-Bereitschaften gibt es, 93 Bergwacht-Rettungswachen und acht Höhlenrettungsteams, erfährt man beim Lesen der Tafeln. Dazu 304 Rettungs- und Mannschaftsfahrzeuge sowie 120 Schneefahrzeuge. Denn die Bergrettung, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs Teil des Bayerischen Roten Kreuzes ist, ist zu jeder Jahreszeit und oft in Skigebieten unterwegs.

Gegründet wurde die Organisation 1920 im Münchner Hofbräuhaus, als "Natur- und Sittenwacht". "Unsere herrliche Bergeswelt darf nicht zum Tummelplatz schamlosen Gelichters werden", hieß es damals wenig gastfreundlich. Gemeint waren aus zeitgenössischer Sicht unpassend gekleidete (oder zu wenig bekleidete) Touristen, die sich gerne ein selbstgepflücktes Edelweiß als Trophäe mit ins heimische Großstadtwohnzimmer nahmen. Kontrolleure versuchten dies zu unterbinden. In der Nazizeit gleichgeschaltet ("auch das ist ein Teil unserer Geschichte, aber nur ein Teil", sagt Vogel), entwickelte sich schließlich die heutige Bergwacht mit insgesamt 5250 Mitgliedern. Sie verfügt über 3500 Einsatzkräfte und 950 noch auszubildende Anwärter. Männer sind klar in der Überzahl, nur 14 Prozent sind Frauen. Neben solchen Zahlen und der Historie beinhaltet die Ausstellung auch Beispiele für die technische Entwicklung, etwa einen Rettungsschlitten der Olympischen Winterspiele von 1936. Verschiedene Knoten werden demonstriert und medizinisches Gerät.

Die Ausstellung, die sich auf einen Raum konzentriert, ist Vogel zufolge "Handarbeit pur" und in Tausenden Arbeitsstunden Ehrenamtlicher entstanden. Die ersten Ideen gab es bereits im Juli 2018, als man sich einig wurde, das Gründungsdatum von vor 100 Jahren gebührend zu begehen. Vor allem in den vergangenen Monaten, so berichtet Vogel, war der harte Kern zehn bis zwölf Stunden pro Woche am Werkeln - neben normalem Job und der Bereitschaft in der Bergrettung.

Die Jubiläumsausstellung "100 Jahre Bergwacht" ist bis 27. September im Alpinen Museum des Alpenvereins auf der Praterinsel zu sehen. Öffnungszeiten täglich außer Montag von 13 bis 18 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen wird schon um elf Uhr aufgesperrt. Der Besuch ist im Eintrittspreis des Museums enthalten (in dem auch die Jubiläumsausstellung anlässlich 150 Jahre Alpenverein zu sehen ist).

© SZ vom 31.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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