Drama von Hélène Cixous:Schlaft weiter, ihr Furien

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Die Corona-Lage im Spiegel eines frühen Stücks von Hélène Cixous: Entstanden 1994 für Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil, passt es heute auf aufschlussreiche Art nur so halb in die Zeit.

Von Joseph Hanimann

Eine der geschicktesten Geschichtsfälscherinnen ist die Geschichte selbst. Es genügt, ein halbausgegorenes Aktualitätsstück vor eine neue Aktualität zu stellen, und schon zieht der Text Fäden. Vielleicht war das gerade das Ziel der Herausgeber bei ihrer seltsamen Idee, dieses 1994 uraufgeführte und seither nie wieder gespielte Stück in überarbeiteter Übersetzung neu zu edieren. Die Aufführung damals an Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil in Paris hat keine besondere Erinnerung hinterlassen und Hélène Cixous hat als Hausautorin dieser Truppe auch nie für andere Theater geschrieben.

Im Kontext der Covid-Krise gelesen, bietet die Lektüre dieses Stücks dennoch ein interessantes Experiment. Immerfort blitzen falsche Analogien auf: "Entsetzlicher, enorm diplomierter Trupp", flucht eine auf dem Friedhof ihrer Stadt herumirrende Mutter gegen die Ärzte, gegen das Gesundheitswesen und gegen das ganze Königreich. Auf dem Friedhof liegen die beiden Kinder dieser Frau begraben. Sie waren Opfer eines verantwortungslosen sanitären Verwaltungsapparats aus Politikern und Doktoren, "Wölfe in weißen Kleidern". So jedenfalls sieht es die Mutter.

So würde man die Antike heute nicht mehr erzählen: Der Text musste "entgoethet" werden

Cixous' und Mnouchkines Stück war eine Abrechnung mit dem Skandal um den Vertrieb von HIV-kontaminierten Blutkonserven in den 80er-Jahren. Blut, diese Substanz, die seit Jahrtausenden bei fast allen menschlichen Dramen fließt und, einmal vergossen, nicht zurückfließen kann, wie es bei Aischylos in den "Eumeniden" heißt, ist das Zentralmotiv des Stücks. Die Autorin Cixous wollte diese Aktualität in den großen Rahmen der Tragödie stellen. Die Erinyen, Rachefurien aus archaischer Zeit, die in Aischylos' "Orestie" nach Athenas Vermittlung Ruhe gegeben haben und lange im Untergrund der demokratischen Routine schlummerten, sind aufs Neue erwacht. Denn der Vertrag rechtsstaatlicher Aufrichtigkeit ist in ihren Augen gebrochen worden. Zu viele Verantwortungslose haben sich seiner bemächtigt. So rumoren die Gestalten hinter der auf die Welt schimpfenden Mutter auf dem Friedhof herum. Fünftausend Jahre hätten sie keine Seuche mehr verbreitet und müssten nun feststellen, dass andere an ihrer Stelle mit kommerziell vertriebenen, verseuchten Blutessenzen die Pest ausstreuen.

Alle Parallelen zur Corona-Aktualität sind trügerisch und machen gerade deshalb das Wiederlesen des Stücks aufschlussreich. Es geht heute nicht mehr um "Wölfe in weißen Kitteln", die auf den Labortischen wissenschaftlicher und politischer Macht unschuldige Kinder opfern. Es geht um Helden, die wochenlang auf den Balkonen für ihre Einsatzbereitschaft beklatscht wurden und selber einen erheblichen Tribut an Todesopfern bezahlt haben. Bei den Gerichten laufen gerade die ersten Klagen ihrer Angehörigen gegen die Nachlässigkeit der Behörden ein. Die gegenwärtige Situation erlaubt keine Gegenüberstellung von Opfern und Tätern wie in Cixous' Stück. Dessen Handlung rückt in antikisierende Ferne, das ist der Preis für unausgereifte Aktualitätsliteratur.

Interessant ist an dieser Neuausgabe aber gerade die aus der Distanz sichtbar gewordene Perspektivenverschiebung. So würde man heute die Antike nicht mehr erzählen. Das beginnt schon mit dem Ton der Übersetzung. Der ursprünglichen Version für die damalige Aufführungstournee sei der neoklassisch nachhallende Klang genommen worden, erklären die Herausgeber im Nachwort. Der Text sei sozusagen "entgoethet" worden. Tatsächlich wirkt die neue Fassung rauer, direkter, politisch griffiger, besser lesbar. Das Stück bleibt aber eben ein Lesestück, nichts für die Bühne, und legt hinter seiner moralisierenden Kontrastzeichnung den Verdacht nahe, die Erinyen könnten sich schon wieder zur Ruhe gelegt haben.

Hélène Cixous: Die meineidige Stadt oder Das Erwachen der Erinyen. Herausgegeben von Wolfgang Hottner und Esther von der Osten. Edition AVL, Berlin 2020. 173 Seiten, 10 Euro.

© SZ vom 02.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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