Kino:Gegen alle Gewohnheit

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Mit den Filmfestspielen Venedig beginnt das erste große Festival seit Beginn der Pandemie. Eröffnet wurde es mit dem italienischen Ehedrama "Lacci".

Von Tobias Kniebe

Nun gibt es also wieder internationale Filmfestivals, das ist die Botschaft, die zur Eröffnung von Venedig zählt. Einige Macher (aber längst nicht alle, die gefragt wurden) haben sich entschlossen, mit den Weltpremieren ihrer Herzensprojekte nicht länger zu warten. Einige Cinephile (aber längst nicht alle, die sonst kamen) haben das Risiko auf sich genommen, sie anzuschauen und dabei in engeren Kontakt mit anderen Cinephilen zu geraten. Das ist erst einmal wunderschön, auch die Spätsommersonne des gar nicht überfüllten Venedig lacht dazu. Aber im Detail ist es dann auch wieder recht seltsam.

Denn jetzt gilt es, mit uralten Festivalgewohnheiten zu brechen. Was zum Beispiel ist wohl aus dem (meist männlichen, etwas älteren) Typus des Frühaufstehers geworden, der ohne einen Premiumplatz mit maximaler Beinfreiheit vor der Leinwand nicht überleben konnte? In all den Jahren der freien, unpandemischen Platzwahl bei Pressevorführungen musste er früh morgens der Erste in jeder Schlange sein, hastete dann in den Saal, sobald er durfte, und ließ sich mit einem Seufzer unendlicher Erleichterung in seinen Stammsessel sinken.

In diesem Jahr müssen alle, auch der Frühaufsteher, Tage vorher im Internet einen Sitzplatz reservieren, wobei dann anfangs auch mal der Server zusammenbrach. Sitzt der arme Mann nun mit zitternden Fingern am Computer? Treibt ihn die neue Zeit in den Wahnsinn? Man weiß es nicht. Die endlosen Schlangen sind jedenfalls weg, die gebuchten Plätze werden streng zugewiesen - jeder zweite Platz ist frei gehalten, aber freie Reihen gibt es nicht - und am Eingang wird eine Temperaturpistole auf jede Stirn gerichtet. "Point blank" würde Dirty Harry dazu sagen, und aus der Perspektive dessen, der gemessen wird, sehen die Sicherheitsleute auch wirklich so aus, als würden sie "Make my day" murmeln: Wag es bloß nicht, Punk, erhöhte Temperatur zu haben!

Alba Rohrwacher (vorn) als betrogene neapolitanische Ehefrau in „Lacci“. (Foto: Gianni Fiorito; Festival)

Das wagte in der Schlange vor einem dann auch keiner, und so konnte pünktlich der Eröffnungsfilm "Lacci" von Daniele Luchetti starten. Der gehört nicht zur ersten Garde des Weltkinos, zur Liga von Alfonso Cuarón, Damien Chazelle oder Alejandro G. Iñárritu, die in den letzten Jahren Venedigs Eröffnungsfilme geliefert haben. Ob er mit diesem Werk zur ersten Garde des italienischen Kinos gehört? Festivalchef Alberto Barbera würde das sicher bejahen, erzählte aber auch offen von seinem Frust, dass der viel bekanntere Nanni Moretti mit seinem fertigen Film nicht antreten wollte, weil er auf Cannes wartet.

"Lacci" (Schnürsenkel) entpuppt sich dann als ein Ehedrama, das über dreißig Jahre hin erzählt wird, beginnend in den frühen Achtzigerjahren. Es ist die Verfilmung eines Romans von Domenico Starnone, der zusammen mit seiner Ehefrau Anita Raja auch im Verdacht steht, unter dem Pseudonym Elena Ferrante gerade eine Serie von Weltbestsellern zu schreiben. Hier aber wird die Geschichte eines Radio-Literaturkritikers erzählt, der anfangs mit Frau und zwei kleinen Kindern in Neapel lebt, sich unter der Woche in Rom aber in eine schöne junge Kollegin von der RAI verliebt, mit katastrophalen emotionalen Folgen für seine Frau, seine Kinder und letztlich auch für ihn.

Das ist gut gespielt (von Alba Rohrwacher und Luigi Lo Cascio, später von Laura Morante und Silvio Orlando), und einige besonders hässliche Eifersuchtsszenen vor den Augen der Kinder gehen einem auch wirklich nahe, weil man in deren angstgeweiteten Augen die Entstehung eines Traumas sieht, was sich in den späteren Jahren dann auch krass bestätigt. Daran liegt das Unbehagen an diesem Eröffnungsfilm nicht, der ja doch irgendwie den Puls einer Zeit fühlen sollte, in der viele Dinge wild in Bewegung geraten sind. Es hängt wohl vor allem mit der Themenwahl zusammen.

(Foto: SZ)

"Das Problem der Langeweile in der Ehe ist letztlich unlösbar", hat Jonathan Franzen die Sache neulich einmal erfrischend nüchtern zusammengefasst, als es um die ganzen unlösbaren Probleme der Welt ging. Das ist der Grund, warum einem die Konstellation des Films natürlich ermüdend vertraut erscheint, bis hin zur wachsenden Bitterkeit der Frauen, an der sich Daniele Luchetti ein bisschen zu sehr weidet. Es ist aber auch der Grund für eine gewisse Ungeduld - selbst die Protagonisten in Ingmar Bergmans "Szenen einer Ehe" waren Anfang der Siebzigerjahre in ihrer Selbsterkenntnis schon Lichtjahre weiter als diese Italiener.

Die eigentlich immer interessante Alba Rohrwacher spielt die betrogene Ehefrau, hat hier aber wenig, wo sie einhaken kann. Ihre Figur steht nur für Zorn und wachsenden Hass, einen Selbstmordversuch und die trotzdem irgendwie unverrückbare Überzeugung, dass Familien nun mal zusammengehören. Mit ihrem Literaturkritiker-Mann tauscht sie keinen einzigen tieferen Gedanken aus, was die Verbindung irgendwie rätselhaft macht. Dieser wiederum säuselt im Radio pseudoklug herum, scheint aber aus all den besprochenen Romanen nicht einen Hauch von emotionalem Spürsinn erlernt zu haben - ein uninteressanter Blender, vor dem man schleunigst flüchten müsste.

Die erwachsenen Kinder scheinen ihre Eltern am Ende auch so zu sehen, was aber die Frage nicht erklärt, warum man als Zuschauer damit traktiert werden musste, also was von diesem filmischen Unternehmen eigentlich bleibt. Darauf hat "Lacci" keine Antworten. Er gehört zu jener Art von (auch nicht gerade seltenen) Eröffnungsfilmen, die man eher hinter sich bringt, um dann schnell zu den echten Entdeckungen vorzustoßen. Ein Vorzeichen für die Corona-Edition von Venedig sollte man darin nicht sehen. Oftmals waren es nicht die schlechtesten Festivals, die ganz unspektakulär begonnen haben.

© SZ vom 03.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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