"Wir schaffen das" - fünf Jahre danach:München, die standhafte Stadt

"Wir schaffen das" - fünf Jahre danach: Demonstration der Stärke: Der Odeonsplatz war 2015 zum Bersten voll, als ein Parteienbündnis zum Protest gegen die Pegida aufrief.

Demonstration der Stärke: Der Odeonsplatz war 2015 zum Bersten voll, als ein Parteienbündnis zum Protest gegen die Pegida aufrief.

(Foto: Stephan Rumpf)

Der Flüchtlingsherbst hat München verändert: Rechte Gruppen sammeln sich auf der Straße, doch die Zivilgesellschaft setzt eindrucksvolle Zeichen für Toleranz und Zusammenhalt - bis heute.

Essay von Heiner Effern

Für die extremen Rechten in München müssen diese Tage am Hauptbahnhof die Hölle gewesen sein. So viele Bürger, auch solche, die sonst nicht politisch aktiv waren, kamen, um zu helfen. Sie fuhren zum Starnberger Flügelbahnhof, um diese zahlreichen fremden Menschen auf der Flucht zu begrüßen und ihre Solidarität zu bekunden. Teddybären und Wasserflaschen wurden gereicht, München präsentierte sich im Flüchtlingsherbst vor fünf Jahren als offene, gastfreundliche Stadt wie kaum jemals zuvor.

Doch in den Jahren danach zeigte sie auch ein anderes Gesicht. Die fremdenfeindliche Pegida hatte einen zwischenzeitlich nicht zu übersehenden Zulauf. Die AfD etablierte sich auch in München. Und die jüngste Kriminalstatistik 2019 wies eine deutliche Steigerung der "politisch motivierten Kriminalität - Rechts" aus.

Die vergangenen fünf Jahre haben München politisch sensibilisiert und zum Teil neu geordnet. Dazu gehört auch, dass die Stadt beeindruckende Demonstrationen für Weltoffenheit und Toleranz erlebte. Doch lässt sich all das auf ein einzelnes, sehr prägendes Ereignis zurückführen? Auf die Tage und Wochen im Herbst 2015, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die deutschen Grenzen für Menschen auf der Flucht geöffnet hatte? Oder wurden dadurch nur Tendenzen und Haltungen deutlicher spürbar und verstärkt, die schon vorher existierten?

Macht man sich im Herbst 2020 auf die Suche nach einer Antwort, lohnt zuerst ein Blick auf objektive Zahlen. Zum Beispiel auf die Wahlergebnisse der Partei, die gegen die Aufnahme von Flüchtlingen mobilisierte wie keine aus dem demokratischen Spektrum. Kurz chronologisch zusammengefasst: Die AfD trat bei der Landtagswahl 2013 nicht an, bei der Kommunalwahl 2014 erreichte sie bereits zwei Sitze im Stadtrat. Danach holte sie bei der Bundestagswahl 2017 in München 8,4 Prozent der Zweitstimmen, im Jahr darauf bei der Landtagswahl 6,5 Prozent der Gesamtstimmen, bei der Europawahl 2019 exakt 6 Prozent und der Kommunalwahl in diesem Frühjahr 3,9 Prozent. Die AfD hat sich also seit 2015 in allen Wahlen etabliert, mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Herbst 2015 in tendenziell abnehmender Stärke. Im Stadtrat verfügt sie über ein Mandat mehr als 2014, nämlich drei.

Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch sieht die Ursache dafür aber nicht in einer seit Herbst 2015 neu aufkeimenden Fremdenfeindlichkeit. Die offenen Grenze hätten keinen Rechtsruck in der Bevölkerung ausgelöst, sondern lediglich eine Veränderung in der Parteienlandschaft, sagt die Leiterin der Akademie für politische Bildung in Tutzing. CDU und CSU hätten seit den 1970er-Jahren eine strikte Haltung in der Flüchtlingspolitik eingenommen. Deren Wortwahl in den vergangenen Jahrzehnten sei durchaus mit dem jetzigen Jargon der AfD zu vergleichen. Kanzlerin Merkel habe 2015 jedoch "die eigene Partei-Leitlinie über Bord geworfen". Im daraufhin eskalierenden Streit mit der CSU sei ein Vakuum entstanden, in das die AfD lediglich hineingestoßen sei.

In den Jahren nach dem Flüchtlingsherbst 2015 hat sich mit Pegida aber eine weitere, öffentlich auftretende sehr rechte bis rechtsextreme Bewegung in München vorübergehend festgesetzt. Montag für Montag legten sie mit ihren Demonstrationen und den nötigen Sicherheitsvorkehrungen das Zentrum lahm. Doch die ersten Auftritte hatte Pegida, unter verschiedenen Namen wie etwa Mügida oder Bagida, bereits vor dem Flüchtlingsherbst 2015. Mit dem Thema Flüchtlinge versuchte sie Fuß zufassen, wie auch rechtsextreme Parteien, etwa "Die Rechte" oder "Der dritte Weg".

PEGIDA Demonstration und Gegendemonstration in München, 2018

Mit dem Thema Flüchtlinge versuchte Pegida Fuß zu fassen, wie auch rechtsextreme Parteien.

(Foto: Johannes Simon)

Schon kurz vor Weihnachten 2014 demonstrierten vor der Oper deshalb mehr als 12 000 Münchner für ein tolerantes und weltoffenes München. Bis zur Landtagswahl 2018 war zu beobachten, wie sich Pegida verfestigte, aber auch die bürgerlichen Netzwerke dagegen Zulauf fanden oder sich neu gründeten. Als die CSU im Sommer 2018 wenige Monate vor der Landtagswahl rhetorisch an die AfD heranrückte und Ministerpräsident Markus Söder von "Asyltourismus" sprach, setzten auf der "Ausgehetzt"-Demo Zigtausende Bürger ein Zeichen, dass sie eine flüchtlingsfreundliche Politik wollen.

Aus der Demo hat sich ein festes Bündnis entwickelt, das sich wie der schon länger bestehende Verein "München ist bunt" weiter gegen Hass und Hetze einsetzt. Das ist nach Ansicht der Fachinformationsstelle Rechtsextremismus München (firm) auch nach wie vor nötig. Mittlerweile ist Pegida zwar mangels Zuspruch bei den Demonstrationen aus dem Stadtbild verschwunden. Doch das heißt nicht, dass Anhänger rechtsextremen Gedankenguts auch ihre politische Haltung aufgegeben hätten.

Die Münchner Polizei hat im ersten Quartal 2020 ihr Ermittler-Team verstärkt, das gegen rechte Straftaten vorgehen soll. Hass und Hetze haben sich mehr ins Netz zurückgezogen und dort zu einer neuen Höchstzahl an Straftaten geführt. Die Polizei registriert insbesondere bei der sogenannten Hasskriminalität eine deutliche Zunahme. Zu Einzelereignissen könne die extreme Rechte in München nach wie vor ein paar Hundert Menschen mobilisieren, heißt es bei firm. Dazu sei davon auszugehen, dass die AfD eine Art "Schwammwirkung" entwickelt habe, also dass sich die Menschen mit Ressentiments gegen Flüchtlinge von dieser so gut vertreten fühlten, dass sie nicht mehr auf die Straße gehen müssten.

So viele kamen

Im Frühherbst 2015 sind in München Zehntausende Geflüchtete angekommen, zunächst fast ausschließlich am Hauptbahnhof; später kamen viele auch am Zentralen Busbahnhof nahe der Hackerbrücke an. Allein zwischen 5. und 14. September erreichten nach Angaben des Münchner Sozialreferats knapp 67 000 Menschen den Hauptbahnhof; sie kamen vor allem aus Ungarn, aber auch aus Italien rollten Züge mit Geflüchteten an. Allein am 6. September wurden 13 000 Menschen gezählt, am 12. September waren es 12 200. Unter ihnen waren auch Tausende Kinder und Jugendliche, bis Ende Oktober 2015 nahm das Stadtjugendamt 4500 Minderjährige in Obhut - zusätzlich zu den 1100, die zu diesem Zeitpunkt bereits in München lebten.

Vor fünf Jahren brachte München deutlich mehr Geflüchtete unter als über den sogenannten Königsteiner Schlüssel vorgesehen ist. Statt 15 000 Menschen waren es Ende des Jahres 21 300. Dazu musste die Stadt insgesamt 60 Standorte für Unterkünfte mit mehr als 13 000 Plätzen schaffen.

Aktuell leben knapp 7000 Menschen in Flüchtlingsunterkünften in München, davon 721 in Erstaufnahmeeinrichtungen, in staatlichen Gemeinschaftsunterkünften etwa 2700, in städtischen mehr als 3500 und zusätzlich in städtisch angemieteten Wohnungen oder Wohnprojekten noch einmal mehr als 1200 Menschen. Doch trotz des mittlerweile relativ niedrigen Zuzugs sind die Unterkünfte in München noch immer voll belegt, weil es nicht genug Wohnraum gibt. anl

Auch im Stadtrat sitzen nun drei Vertreter der AfD. Was hat sich geändert zu 2014? Damals waren zwei Mitglieder der AfD und Karl Richter von der "Bürgerinitiative Ausländerstopp" (BIA) gewählt worden. Die zwei AfD-Stadträte fielen neben einigen abstrusen Äußerungen vor allem dadurch auf, dass sie austraten, sich mehrmals umbenannten und am Schluss der eine ganz verschwand und der andere sich der Bayernpartei anschloss. BIA-Stadtrat Richter lebte vor und nach dem Herbst 2015 sein rechtsextremes Gedankengut ziemlich offen aus. Der Stadtrat isolierte ihn, viele verließen bei seinen Reden den Saal, und ein Offizieller wies ihn stets danach in die demokratischen Schranken.

Darin herrschte große Einigkeit, die nur selten Risse zeigte, etwa als sich der CSU-Stadtrat Reinhold Babor in seiner Weihnachtsrede als ältester Stadtrat einer "Das Boot ist voll"-Rhetorik bediente, von der sich seine eigene Fraktion schleunigst distanzierte. Die wesentlichen Beschlüsse zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen fielen im Stadtrat in großem Konsens. Nun sitzen seit dem Frühjahr drei AfD-Mitglieder im Stadtrat, die ihre Haltung zu ihnen nicht genehmen Gruppen immer mal durchscheinen lassen, sich aber mit offener Fremdenfeindlichkeit oder Diskriminierung von Minderheiten bisher zurückhalten.

Aus dem Ergebnis der AfD bei der Kommunalwahl von 3,9 Prozent, das alle anderen Parteien mit großer Erleichterung aufgenommen haben, allerdings zu schließen, dass die Münchner sich weiter oder gar komplett von ihr abwenden würden, wäre allerdings ein Trugschluss. Die Partei hatte große Probleme, nach den Erfolgen im Bund und im Land für die Kommunalwahl noch vorzeigbares Personal zu finden. Darüber stritt sie intern so heftig, dass selbst Mitglieder der AfD vor der Kommunalwahl davor warnten, für bestimmte Parteikollegen zu stimmen.

Dazu hat München im Vergleich zu anderen Städten oder Regionen nach Meinung der Politikwissenschaftlerin Münch einige Vorteile, die jedoch nicht für immer Bestand haben müssen. In der Stadt gibt es kein Großprojekt, an das die AfD andocken und mit dem sie mobilisieren kann. Dazu hat die enorme Wirtschaftskraft dafür gesorgt, dass es im Vergleich wenig abgehängte Bürger gibt. Und die Bevölkerung ist schon seit den sozialdemokratischen Stadtplanungen der 1960er- und 70er-Jahre so gut gemischt, dass keine Ghettos entstanden sind.

Doch nun drohen nach der Pandemie wirtschaftliche Probleme, die Angst um den Arbeitsplatz könnte Vorurteile oder Neid schüren, wie es in den vergangenen Jahren nicht der Fall war. Deshalb müsse die Stadt gerade jetzt sehr genau darauf achten, dass Integration nicht nur bei neu ankommenden Menschen gelinge, sondern auch bei denjenigen Münchnern, die sie dauerhaft an die Rechtsextremisten verlieren könnte, sagt Münch.

Damit meint sie Bürger, die Vorbehalte gegen Flüchtlinge haben, aber nicht per se ein menschenverachtendes Menschenbild besitzen. Also Münchner, die vor noch gar nicht so langer Zeit zum Beispiel die CSU gewählt hätten. Eine zunehmende Polarisierung, das pauschale Trennen in Gut und Böse, berge gerade in solchen Zeiten eine Gefahr für die Gesellschaft, sagt die Politikwissenschaftlerin. Es gehe nun für Grün-Rot als Regierungsbündnis im Rathaus "um die Kunst", Menschen mit einer solchen politischen Meinung im demokratischen Spektrum zu halten.

Der Herbst 2015 ist bei dieser seit vielen Jahren und Jahrzehnten bestehenden Aufgabe ein einmaliges Ereignis, dem dabei keine große Bedeutung mehr zukommen wird. Er hat der Stadt aber gezeigt, wie stark sie als Zivilgesellschaft sein kann.

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