Kinder von NS-Arbeitssklavinnen:Geboren um zu sterben

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Im letzten Kriegsjahr sieht der Schüler Konrad Menter nahe Dachau wie Kleinkinder von Zwangsarbeiterinnen beerdigt werden - viele sind verhungert. Nun soll an die kaum wahrgenommenen NS-Opfer erinnert werden.

Von Thomas Radlmaier, Markt Indersdorf

An einem Sommervormittag kommt Konrad Menter auf den Friedhof an der Maroldstraße, um zu zeigen, wo die getöteten Säuglinge begraben wurden. In der Mitte des Friedhofs stechen zwei Bäume in den Himmel und schützen den alten Mann vor der Sonne. Der Schatten tänzelt auf seiner Stirn, als wollte er die Erinnerung aus ihm herauskitzeln. Menter, Jahrgang 1934, deutet auf eine Wiese zwischen den Bäumen und der Friedhofsmauer.

Es sind ein paar Quadratmeter links neben dem Eingang zur Totenstätte. Er ist sich sicher: Hier in diesem Bereich muss es gewesen sein. Menter erinnert sich daran, dass die Särge weiß waren, vielleicht 90 auf 60 Zentimeter groß. Wie sie zunächst neben den ausgehobenen Gruben standen.

Manchmal war es ein Sarg, manchmal waren es zwei. "Es war immer ein beklemmender Augenblick, diese kleinen weißen Kindersärge zu sehen", sagt Konrad Menter, der beim Reden den Kopf oft ein wenig gen Himmel richtet. "Und man fragt sich, was hätte wohl aus diesen Kindern werden können?"

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Konrad Menter, gebürtiger Indersdorfer, erlebte als Kind, wie im letzten Kriegsjahr 1944/45 auf dem Friedhof in der heutigen Maroldstraße reihenweise Kleinkinder von Zwangsarbeiterinnen aus der Umgebung beerdigt wurden. Sie waren die jüngsten und wehrlosesten Opfer des Nationalsozialismus. Säuglinge, deren Leben nach nur wenigen Wochen oder Monaten zu Ende ging, weil sie ihren Eltern genommen wurden und sich niemand um sie kümmerte. Sie starben durch mangelhafte Versorgung und Unterernährung.

Menter, damals neun oder zehn Jahre alt, war als Ministrant bei sechs bis acht Beerdigungen mit dabei. Wie viele es genau waren, kann er heute nicht mehr sagen. Er kann sich aber noch an die Tränen der Mütter erinnern, die teilweise an den Beerdigungen ihrer Kinder teilnehmen durften. Wie sie weinten und schluchzten. "Es ist eine unheimlich traurige Geschichte."

Konrad Menter ist einer der wenigen Zeitzeugen, die noch etwas über die sogenannte Kinderbaracke von Markt Indersdorf erzählen können. Es ist ein dunkles Kapitel der Ortsgeschichte, über das mehr als 75 Jahre später immer noch relativ wenig bekannt ist.

1986 machte der Journalist Hans Holzhaider, damals Redakteur der SZ Dachau, die Grundlagenforschung und berichtete darüber in der Zeitung. Zuvor hatte niemand in Indersdorf über das gesprochen, was sich im letzten Kriegsjahr unweit des Klosters abspielte.

Im August 1944 ließen die Nationalsozialisten außerhalb der Mauern des Klosters, ziemlich genau dort, wo heute der Kindergarten Sankt Vinzenz ist, eine Holzbaracke errichten, um darin unter menschenunwürdigen Bedingungen Kleinkinder unterzubringen. Hintergrund war ein Erlass Heinrich Himmlers, des Reichsführers der SS. Darin war geregelt, wie künftig mit schwangeren Zwangsarbeiterinnen umzugehen sei.

Zwischen 1939 und 1945 deportierten die Nationalsozialisten bis zu zehn Millionen Menschen aus von der deutschen Armee besetzten Ländern - vor allem Polen und der damaligen Sowjetunion - ins "Deutsche Reich" und zwangen sie zur Arbeit. Diese wurden unter anderem auf Bauernhöfen eingesetzt. Während die Nationalsozialisten in den ersten Kriegsjahren schwangere Zwangsarbeiterinnen noch in deren Heimatland zurückschickten, waren sie später auf deren Arbeitskraft angewiesen.

Deshalb wurden einfachste Unterkünfte errichtet, von Himmler zynisch "Ausländerkinderpflegestätten" genannt. Tatsächlich waren diese oft nicht mehr als Bruchbuden wie die Kinderbaracke in Indersdorf. Gebaren die Zwangsarbeiterinnen ein Kind, mussten sie dieses sofort in die Einrichtungen geben. Viele Mütter versuchten verzweifelt, ihre Neugeborenen zu sich zurückzuholen. Doch oft sahen sie ihre Kinder nie wieder.

Zwischen September 1944 und Mai 1945 starben nach heutigem Kenntnisstand mindestens 35 Kleinkinder, die in der Kinderbaracke Inderdorf untergebracht waren. Im "Personenstandsbuch Kinderbaracke Kloster Indersdorf" wurden die Namen von 63 Kindern eingetragen.

Das Schicksal von mehr als 20 Kindern kann bis heute nicht aufgeklärt werden. Luise Wassilow, geboren am 26. Juni 1944 in Dachau, überlebte die Kinderbaracke nicht. Auf ihrer Sterbeurkunde heißt es: "(...) ist am 16. September 1944 um 2 Uhr in Kloster Indersdorf Ostarbeiterkinderheim verstorben".

Die meisten Todesfälle wurden im Sterberegister des Marktes vermerkt. Viele Kinder lebten nur Tage oder Wochen. Zynisch muten die angegeben Todesursachen an: Brechdurchfall, Magen- und Darmerkrankungen, Herzschwäche. Die Wahrheit ist vielmehr, dass ein Großteil an den Folgen massiver Mangelernährung gestorben ist. "Sie sind verhungert", sagt die Historikerin Anna Andlauer.

Die Kinder seien völlig unterernährt und verwahrlost gewesen. Andlauer berichtet von einem "Gerücht", dass ein Arzt einem Kind Petroleum gespritzt haben soll. Was für ein menschenverachtendes Weltbild die Verantwortlichen der Kinderbaracke hatten, zeigen die Einträge im Sterberegister.

Denn irgendwann machte man sich nicht mehr die Mühe, um spezifische Todesursachen anzugeben. Bei Valentin Iwankowitsch, der am 19. Februar 1945 in Dachau geboren wurde und schon wenige Tage später am 7. März starb, steht bei Todesursache: "unbekannt". Bei Manfred Kraut wurde im Sterberegister vermerkt: "26. Januar, Todesursache: angeborene Lebensschwäche".

Viele der getöteten Kinder wurden anonym auf dem Friedhof in der Maroldstraße beerdigt. Dort erinnern heute mehrere Stahlstelen an sie. Nun plant Anna Andlauer zusammen mit dem Heimatverein und der Kreisheimatpflegerin Birgitta Unger-Richter einen Gedenkweg, den "Weg des Erinnerns", der vom Bezirksfriedhof an der Maroldstraße über einen Feldweg zum Kloster Indersdorf führen soll, wo die Kinderbaracke stand.

Insgesamt sollen es fünf Infotafeln werden ( siehe Kasten). Eine davon will Andlauer in der Nähe des Kindergartens Sankt Vinzenz aufstellen. Darauf werden die Namen aller 35 Kinder zu lesen sein, welche die Unterbringung in der Baracke nicht überlebten. Darunter folgende Zeilen aus dem Roman "Gezeiten des Schweigens" von Ellie Wiesel: "Ein Kind, das stirbt, wird zum Mittelpunkt der Welt: Die Sterne und Gefilde sterben mit ihm."

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Viele Menschen im Ort müssen damals etwas gewusst haben über die furchtbaren Geschehnisse in der Kinderbaracke. Für die Kinderbaracke Indersdorf wurde ein Zweckverband gegründet. 1944 machte der Marktgemeinderat dafür den Weg per Beschluss frei. Dazu hat der Indersdorfer Altbürgermeister Josef Kreitmeir vor kurzem ein wichtiges Dokument entdeckt: Im Beschlussbuch der Marktgemeinde Indersdorf fand er die Niederschrift vom 27. November 1944.

Dort heißt es unter Tagesordnungspunkt eins: "Dem Beitritt zum Zweckverband für das Ostarbeiterkinderheim wird zugestimmt." Doch wer dem Zweckverband neben dem Markt Indersdorf noch angehörte, ist bis heute unklar. Dazu habe man bisher nur ganz wenig gefunden, sagt Anna Andlauer. "Wir haben nichts über die Strukturen", sagt sie.

Auch die Beerdigungen der Kleinkinder fielen damals im Ort auf. Konrad Menter berichtet, dass er und die anderen Messdiener bei den Prozessionen anfangs den schwarzen Chorrock mit dem weißen Kragen trugen. Doch dann habe der Kooperator Praunseis angedeutet, "dass es nicht gern gesehen würde, wenn wir in offizieller Trauerkleidung daherkämen". Von da an gingen die Messdiener in Zivil.

Menter erinnert sich aber auch noch an eine der ersten Beerdigungen, als alle Ministranten noch die schwarzen Röcke anhatten. Die Messdiener, der Pfarrer und der Kooperator verließen gemeinsam die Klosterkirche und schritten entlang der heutigen Maroldstraße zum Friedhof. Der Priester hatte ein größeres Kreuz dabei. Ein Ministrant schwenkte ein Weihrauchfass. Darin rauchte ein Ersatzstoff. Weihrauch gab es im letztem Kriegsjahr nicht mehr.

Historikerin Anna Andlauer. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Als sie am Friedhof ankamen, war die Glut erloschen, erzählt Menter. Auf dem Friedhof lag ein "weißer Kindersarg" neben einem geöffneten Grab, daneben ein Berg aus Erde. Der Priester sprach Gebete auf lateinisch. Anschließend segnete er den Sarg und die Trauernden und besprühte sie mit Weihwasser. Menter erinnert sich, dass anfangs nur die Leiterin der Kinderbaracke bei den Beerdigungen anwesend gewesen sei. Später auch Betreuerinnen der Einrichtung und Mütter. Die Beerdigungen seien ordentlich gewesen, betont Menter, "nach katholischem Ritus, mit lateinischen Texten".

Jetzt steht Konrad Menter genau an der Stelle, wo vor mehr als 75 Jahren die Särge mit den toten Kindern unter die Erde glitten. Er richtet seinen Kopf wieder ein wenig gen Himmel und beklagt, dass auch heute noch Kinder auf der ganzen Welt sterben müssen, weil sie etwa verhungern, Kriegen oder auch häuslicher Gewalt zu Opfern fallen. Menter sagt, dass man das doch ausgerechnet Kindern, die sich nicht wehren könnten, nicht antun dürfe. Hinter ihm stecken zwei Holzkreuze in der Erde des Friedhofs in der Maroldstraße. Auf einem steht: "Herr, dein Wille geschehe."

Am Sonntag, 13. September, am Tag des Offenen Denkmals, wird um 13 Uhr im Museum in Indersdorf die Ausstellung "Zurück ins Leben" über das internationale Kinderzentrum im Kloster eröffnet. Von 15 bis 17 Uhr will Anna Andlauer an diesem Tag auf dem Bezirksfriedhof an die Opfer der Kinderbaracke erinnern, die dort beerdigt sind.

© SZ vom 05.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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