Massaker von Jedwabne:Ein verdrängtes Verbrechen

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Gedenken an das Pogrom: Rabbiner an den Gräbern der Ermordeten von Jedwabne am 60. Jahrestag im Jahr 2001. (Foto: Peter Andrews/Reuters)

Die polnische Journalistin Anna Bikonts hat eine Reportage über den antisemitischen Pogrom von Jedwabne 1941 geschrieben. Nun erscheint das beklemmende Buch auf Deutsch.

Rezension von Thomas Urban

Jedwabne ist eine der grellen Chiffren aus dem Zweiten Weltkrieg, die bis heute verbitterte Debatten hervorrufen. In dem ostpolnischen Städtchen hatte am 10. Juli 1941, wenige Tage nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, eine Gruppe Einheimischer die meisten ihrer jüdischen Nachbarn in eine Scheune getrieben und diese angezündet.

Zuvor hatte ein SS-Kommando den Tätern Beute und Straffreiheit versprochen. Vor genau zwei Jahrzehnten hatte das Buch "Nachbarn" des aus Warschau stammenden amerikanischen Politologen Jan Tomasz Gross über diesen verhängnisvollen 10. Juli das polnische Selbstbild vom unschuldigen Opfer der deutschen Besatzung erschüttert: Polen waren auch Täter beim Holocaust.

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Ein Teil der Publizisten fordert seitdem die schonungslose Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels; andere aber wehren sich heftig dagegen, dass die polnische Nation, deren Elite damals selbst von den Deutschen gnadenlos verfolgt wurde, auf eine Stufe mit dem NS-Regime gestellt werde, für das der Massenmord an den Juden Staatspolitik war.

Der Jüdische Verlag im Hause Suhrkamp hat nun - 16 Jahre nach der Originalfassung - in deutscher Übersetzung die Recherchen der Warschauer Journalistin Anna Bikont über die Vertuschung dieses Massenmordes herausgebracht. Bereits vor zwei Jahrzehnten hatte sie in mehreren Reportagen für die linksliberale Gazeta Wyborcza ein schockierendes Bild von dem tiefverwurzelten Antisemitismus in der Landbevölkerung Ostpolens gezeichnet, der den Hintergrund für den Pogrom von Jedwabne bildete - und sich somit bei den Nationalkatholiken verhasst gemacht.

Denn gnadenlos zitiert die Autorin aus Kirchenblättern der Vorkriegszeit, die die Juden als "Christusmörder" und unverschämte Wucherer brandmarkten. Es waren nicht nur Dorfpfarrer, die die Gläubigen warnten, in von Juden geführten Geschäften zu kaufen, sondern sogar der Primas der katholischen Kirche, Kardinal August Hlond. Ein Teil des polnischen Episkopats betreibt seit Jahren die Seligsprechung Hlonds, ist aber beim Landsmann im Vatikan, Johannes Paul II., abgeblitzt.

Die Mörder waren Polen, doch die Rolle der SS-Einheit vor Ort war mitentscheidend

Geschickt verknüpft Anna Bikont die Berichte von Augenzeugen des Massenmordes mit den Aussagen von Einwohnern der Region zwei Generationen später. Bewegend schildert sie etwa den Lebensweg der Jüdin Rachela Finkelsztejn: Ein junger Mann aus der Nachbarschaft überredet sie, sich taufen zu lassen und ihn zu heiraten, um vor Pogromen sicher zu sein. Er sagt im Rückblick lakonisch, die Liebe sei später gekommen. Sie aber wollte auch 60 Jahre später nicht über ihre Erlebnisse sprechen.

Jedwabne war keineswegs der einzige Ort in der Region, in dem katholische Polen ihre jüdischen Nachbarn unter den Augen der deutschen Besatzer ermordeten.

Allerdings spielt das SS-Kommando in der Darstellung der Autorin nur eine marginale Rolle, obwohl das zweibändige Weißbuch, das das Institut für das nationale Gedenken (IPN) in Warschau herausgegeben hat, diese genau beleuchtet. Denn Jedwabne war kein polnisches, sondern ein deutsch-polnisches Verbrechen, moralisch wie strafrechtlich wird Anstiftung zu einem Mord genau so bewertet wie die Tat selbst.

Bedauerlicherweise hat der Verlag auf eine Einführung in das Thema für deutsche Leser verzichtet. Denn vor zwei Jahrzehnten gab es auch eine deutsche Jedwabne-Kontroverse, die tiefe Gräben unter den Polenexperten aufgerissen hat. In der Bundesrepublik waren Gross' Buch und Anna Bikonts Reportagen damals zunächst uneingeschränkt begrüßt worden.

Anna Bikont: Wir aus Jedwabne - Polen und Juden während der Shoah. Aus dem Polnischen von Sven Sellmer. Suhrkamp- Verlag, Berlin 2020. 699 Seiten, 34 Euro. (Foto: N/A)

Links und liberal eingestellte Autoren freuten sich, dass die Polen nun gezwungen würden, sich mit ihrem traditionellen Antisemitismus auseinanderzusetzen. In Publikationen des rechten Spektrums, darunter des Bundes der Vertriebenen, klang die Befriedigung darüber an, dass nun endlich auch polnische Verbrechen in den Fokus rückten.

Die deutsche Kontroverse brach aus, nachdem die von Gross übersehenen Berichte über das SS-Kommando bekannt geworden waren: Wer nun auf die Mitschuld der Deutschen hinwies, sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Aufarbeitung des polnischen Antisemitismus zu sabotieren. Allerdings sparten die meisten deutschen Berichterstatter die Rolle des SS-Kommandos aus.

Dem nationalpatriotischen Lager an der Weichsel galt dies als weiterer Beleg für die These, dass in der Bundesrepublik die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu Lasten der Polen umgeschrieben wird. Diese Sichtweise dominiert den heutigen Diskurs in Polen.

Anna Bikont schreibt in ihrem Nachwort für die deutsche Ausgabe, dass der Antisemitismus unter ihren Landsleuten nach wie vor virulent sei und sogar den "Mainstream" erreicht habe. Doch liegen die Dinge komplizierter.

Fesselnd geschriebener Beitrag zur Universalgeschichte des Antisemitismus

Denn die Geschichtspolitik des mächtigen Mannes an der Weichsel, Jarosław Kaczyński, zielt auf die Konstruktion einer katholisch-jüdischen Opfergemeinschaft im besetzen Polen ab, was ihm das linksliberale Lager allerdings als eine Geschichtsklitterung anlastet. Immerhin tritt Kaczyński energisch für die Pflege des jüdischen Kulturerbes und für gute Beziehungen zu Israel ein - und widerlegt die gerade in der Bundesrepublik populäre These vom ewigen Antisemitismus der polnischen Rechten.

Doch abgesehen von der fehlenden Einordnung in die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte, die Sache des Verlags gewesen wäre, hat Anna Bikont mit dem fesselnd geschriebenen, beklemmend zu lesenden Buch einen wichtigen Beitrag zur Universalgeschichte des Antisemitismus geleistet, über Hass und Verblendung, aber auch über den Mut einzelner Gerechter.

© SZ vom 07.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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