Politische Konsequenzen:Menschen holen oder Material schicken

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Außenminister Heiko Maas (SPD) fordert eine „Verteilung von Geflüchteten unter Aufnahmewilligen in der EU“. (Foto: imago images/photothek)

Innenminister Horst Seehofer bietet Athen Hilfe an, zusätzliche Flüchtlinge will er aber nicht aufnehmen. Genau das fordern SPD, Grüne - und ein anderer CSU-Minister.

Von Karoline Meta Beisel, Constanze von Bullion

Deutschland werde helfen, zügig helfen, zögere keine Sekunde, der griechischen Regierung Unterstützung zukommen zu lassen. In allen Varianten haben Vertreter der Bundesregierung am Mittwoch versichert, die Folgen des Feuers im Flüchtlingslager Moria lindern zu wollen. Nur, wie diese Hilfe genau aussehen soll, darüber war man sich keineswegs einig. Das Thema treibt Union und SPD auseinander, aber auch Bund und Länder.

Zwischen 12 000 und 13 000 Menschen irrten nach dem Brand über die Insel Lesbos, als Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sich am Mittwochmorgen mit Griechenlands Migrationsminister Notis Mitarakis verbinden ließ. Mitarakis ist nicht dafür bekannt, Geflüchteten sonderlich viel Milde entgegenzubringen. Kürzlich schlug er vor, Asylbewerbern nach drei Monaten in der EU keinen Cent mehr zu zahlen, sonst werde man sie nie wieder los. Man habe die Lage "im Griff", teilte der Grieche dem Deutschen mit. 400 unbegleitete minderjährige Migranten würden aufs Festland gebracht. Er werde wissen lassen, welche Hilfe weiter nötig sei.

Viel mehr ist nicht durchgesickert über das Telefonat, aber genug, um Seehofers Sprecher am Mittwoch einer kräftigen Brise Fragen auszusetzen. Will die Bundesregierung nach der Brandkatastrophe obdachlos gewordenen Geflüchteten aus Moria nur "vor Ort" helfen, mit Zelten, Geld oder dem Technischen Hilfswerk? Oder ist Seehofer nun bereit, das Angebot einiger Bundesländer anzunehmen, zusätzliche Flüchtlinge aus Moria nach Deutschland einreisen zu lassen? Thüringen hat bereits vor Monaten Plätze für 500 Menschen angeboten, Berlin für 300. Seehofer lehnte das bisher ab. Und am Mittwoch sah es nicht so aus, als könnten die Flammen im Camp Moria das ändern.

"Es gibt an dem Prinzip der Aufnahme in Deutschland im Moment keinen Änderungsbedarf aus Sicht des Bundesinnenministers", sagte Seehofers Sprecher. Allerdings stehe man noch am Anfang der Gespräche. Der Minister habe "sehr zeitig" Hilfe angeboten. Nun müsse der griechische Kollege sagen, was er brauche. "Diese Hilfe werden wir prüfen und dann sehr zügig und unkompliziert bereitstellen."

Hilfe vor Ort: ja - Übernahme von Flüchtlingen: bestenfalls vielleicht. So ist die Botschaft zu verstehen. Deutschland habe inzwischen 465 Personen aus den desolaten griechischen Lagern übernommen, ließ Seehofers Sprecher noch wissen. Es handle sich um kranke Kinder und ihre Angehörigen. Frankreich hat nach monatelangem Zögern bisher 49 Kinder eingeflogen. Im Übrigen liege der Ball bei der EU-Kommission, die eine Reform des europäischen Asylsystems vorlegen wolle.

Das hält auch ein Kabinettskollege und Parteifreund Seehofers für nicht ausreichend. Entwicklungsminister Gerd Müller forderte, 2000 Migranten aufzunehmen. Deutschland solle mit einem entsprechenden "Zeichen der Humanität" vorangehen, sagte er in der ARD. "Ich persönlich bin der Meinung, dass wir die Angebote der deutschen Länder annehmen sollten." Auch die Führungsriege der SPD verlangt, mehr zu tun. "Wir brauchen einen starken humanitären Schritt, um die Flüchtlinge runter von der Insel und in Sicherheit zu bringen", twitterte der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. "Deutschland muss jetzt helfen. Viele Kommunen sind bereit, Flüchtlinge aufzunehmen." Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) schrieb auf Twitter von einer "humanitären Katastrophe". Zu den Maßnahmen, die jetzt schleunigst mit den europäischen Nachbarn zu klären seien, gehöre "auch die Verteilung von Geflüchteten unter Aufnahmewilligen in der EU". Aus den Ländern pfiff Seehofer kalter Wind entgegen. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) forderte Bundesregierung und EU-Staaten auf, das Lager Moria "aufzulösen und die Menschen über die EU zu verteilen, damit sie dann in Europa ihr Asylverfahren durchlaufen können". Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) nannte das Schweigen zu den desolaten Zuständen einen "Tatbestand der europäischen Schande".

Die Grünen forderten eine Räumung des Lagers und die Übernahme Geflüchteter. Im Hause Seehofer sieht man das anders. Hier wird vor allem die Untätigkeit der EU-Kommission für den Stillstand in der Migrationspolitik verantwortlich gemacht. Eine Reform des europäischen Asylsystems wurde mehrfach verschoben. Am 30. September sollen nun Vorschläge kommen. "Unsere unmittelbare Konzentration richtet sich darauf, den Menschen heute Nacht ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, und es sieht so aus, als würde uns das auch gelingen", sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Die EU-Kommission werde Geld zur Verfügung stellen, um 400 unbegleitete Jugendliche von Lesbos aufs Festland zu bringen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fügte hinzu, sie habe ihren Vizepräsidenten Margaritis Schinas aufgefordert, nach Griechenland zu reisen. "Wir sind bereit, zu helfen, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten", schrieb von der Leyen auf Twitter. Sie sei "tief traurig".

Den Vorwurf, die EU habe das Unglück durch den langen politischen Stillstand überhaupt erst ermöglicht, wies die Kommission zurück. Die Zustände auf Moria seien bereits inakzeptabel gewesen, als diese Kommission im Dezember ihr Amt angetreten habe, sagte Johansson. Seither habe sich viel getan. Die Zahl der Bewohner des Lagers habe seit März deutlich abgenommen. Im Europaparlament sieht man vor allem Europas Hauptstädte in der Verantwortung. Athen, weil es trotz der bereits seit Langem fließenden EU-Gelder keine menschenwürdige Unterbringung der Migranten organisiert; aber auch die anderen Mitgliedstaaten, die über eine echte gemeinsame Migrationspolitik in den vergangenen Jahren oft nicht einmal mehr ernsthaft diskutiert haben. "Jede EU-Regierung muss aufhören, mit dem Finger auf andere zu zeigen, und selbst handeln", sagt Erik Marquardt von den Grünen.

© SZ vom 10.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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