Warntag:"Die Pandemie hat viele Elemente einer Katastrophe"

Warntag: Auf den Dächern vieler öffentlicher Gebäude finden sich - wie hier in Überacker - Sirenen, die vor öffentlichen Gefahren warnen.

Auf den Dächern vieler öffentlicher Gebäude finden sich - wie hier in Überacker - Sirenen, die vor öffentlichen Gefahren warnen.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Um elf Uhr an diesem Donnerstag heulen Sirenen als Teil des bundesweiten "Warntages". Was davon zu halten ist und wo Gefahren in Zukunft lauern, erklärt der Katastrophenforscher Martin Voss.

Von Mareen Linnartz

Lautsprecherwagen, die durch die Straßen fahren, Radiosender, die ihr Programm unterbrechen, Alarmmeldungen auf entsprechenden Apps: Der bundesweite "Warntag" an diesem 10. September ist der erste seit der Wiedervereinigung. Es ist ein Probelauf, ob alle Kommunikationswege bei einer Umweltkatastrophe, einem Terroranschlag oder einem Chemieunfall funktionieren. Aber nicht nur. Auch in der Bevölkerung soll das Krisenbewusstsein wieder geschärft werden. Erreicht man das mit einem Probealarm? Ein Gespräch mit Professor Martin Voss von der Katastrophenforschungsstelle in Berlin.

SZ: Herr Voss, was werden Sie an diesem Donnerstag um elf Uhr machen?

Martin Voss: Ganz meiner Arbeit nachgehen. Außer einigen fragenden Blicken wird sich nicht sehr viel im Alltag beobachten lassen. Wer eine Warn-App installiert hat, wird einmal auf das Handy schauen, wenn es piept, wer eine Sirene hört und noch nicht weiß, was dahintersteckt, vielleicht das Radio anschalten oder im Internet nachschauen. Aber viele werden das überhaupt nicht mitbekommen.

Aber ein durchdringender Heulton einer Sirene ist doch kein alltägliches Geräusch.

Stimmt. Aber dafür muss eine Sirene auch erst einmal in Ihrer Hörweite sein. Und das ist in Deutschland nicht mehr flächendeckend der Fall. Die meisten Sirenen sind nach dem Ende des Kalten Krieges abgebaut worden. Inzwischen sind wir so weit, die Bevölkerung auch über andere technische Medien zu informieren, wie es nun ja auch geschieht.

Mit dem Warntag soll auch das Krisenbewusstsein in der Bevölkerung geschärft werden, heißt es. Ist das nicht etwas merkwürdig in einem Jahr, das von einer permanenten Krise geprägt ist?

Die Gesellschaft hat durch Corona mit Sicherheit ein schärferes Bewusstsein für ihre Anfälligkeit entwickelt. Der Warntag ist vermutlich aber vor Corona geplant worden, mit dem Hintergedanken: Wir müssen die Bevölkerung wieder wachrütteln, denn wir sind seit 1989 nicht vollkommen unverletzbar geworden.

Sie glauben auch: Die Gesellschaft hat sich zu lange in Sicherheit gewiegt?

Ja. Übrigens auch, was eine mögliche Pandemie betrifft. Die ist ja nicht vom Himmel gefallen. Im Januar werden aber selbst die Behörden bei der Planung des Warntages eher eine Naturkatastrophe oder einen Terroranschlag, also eine schockartige, akute Störung des Systems, vor ihrem inneren Auge gehabt haben. Keine Pandemie. Die wird auch nur als Krise behandelt, sie ist formal gesehen nicht Sache des Katastrophenschutzes.

Martin Voss

"Durch Corona hat die Gesellschaft ein Bewusstsein für ihre Anfälligkeit bekommen": Martin Voss von der Katastrophenforschungsstelle Berlin

(Foto: Privat)

Sie sehen das anders?

In Deutschland sind über Monate hinweg all diejenigen aktiv gewesen, die wir sonst auch unter das Dach des Katastrophenschutzes stellen. Die Hilfsorganisationen, die Feuerwehren, das Technische Hilfswerk, unzählige viele freiwillige Helferinnen und Helfer, die Verwaltungen - dieses Arrangement an Akteuren hätten Sie auch in einer Hochwasserlage. Manche Kreise haben den Katastrophenfall ausgerufen. Die Pandemie hat sehr viele Elemente einer Katastrophe, ja.

Aber man nennt sie nicht so.

Für mich nennen wir viel zu viel Katastrophe, was keine ist. Wenn wir ein Loveparade-Ereignis haben, bei dem 21 Menschen sterben, ist es für alle, die direkt damit zu tun haben, eine Tragödie. Aber nicht für die Gesamtgesellschaft. Das Wort Krise wiederum ist für mich in dem Zusammenhang mit Corona nicht ganz korrekt. Weil es impliziert: Es kann noch gut ausgehen.

Davon gehen Sie nicht aus?

Die Pandemie ist ein globales Ereignis, die Zusammenhänge sind überaus komplex. In Deutschland sieht es so aus, als seien wir schon durch das Schlimmste durch, aber global gesehen ist das nicht der Fall, und das kann uns sicher auch hier noch wieder einholen. Es kann zum Beispiel über die Finanzmärkte weiterhin zu krassen Verwerfungen kommen, da hängen dann wiederum viele andere Effekte daran.

Zurück zum Warntag: Für wie sinnvoll halten Sie ihn?

Ich halte es für sinnvoll, dass man mit einer sehr heterogenen Bevölkerung von Seiten der Behörden immer in einem Dialog ist und klarmacht: Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Bedrohung, wir alle müssen uns damit auseinandersetzen. Welche Arten von Risiken wollen wir unbedingt vermeiden, welche wollen wir eingehen, und zu welchem Preis? Darüber müssen wir uns unterhalten.

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Aber ist ein Warntag eine Unterhaltung?

Nein, er ist ein Impuls, zu sagen: Wir müssen aufpassen. Er ist ein Zeichen, aber dieses Zeichen zu verstehen und zu interpretieren, das müssen wir lernen und erproben. Das kommt nicht nur mit einem Warntag, dazu braucht es auch flankierende Maßnahmen. Und ja, klar: Dieses Zeichen funktioniert heute ganz anders, als es noch vor einem Jahr funktioniert hätte. Die Leute werden anders darüber nachdenken.

Nun werden neue Kommunikationswege bei diesem Probealarm eingeschlagen, jenseits der Sirenen kommen beispielsweise auch digitale Werbeflächen oder die Warn-App Nina zum Einsatz. Erreicht man damit gut die Bevölkerung?

Eines haben wir in den vergangenen Jahrzehnten gelernt: Man kommuniziert mit einer Bevölkerung nicht über Lautsprecherwagen oder Sirenen. Zumindest nicht nur.

Warum nicht?

Weil man mit vollkommen unterschiedlichen Menschen zu tun hat in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen, bei denen Botschaften vollkommen unterschiedlich ankommen können. Sirenen beispielsweise haben ein Retraumatisierungspotenzial - bei Menschen, die Kriege erlebt haben, in denen damit vor Bomben gewarnt wurde. Wir müssen im digitalen Zeitalter differenziert informieren.

Sie als Berufspessimist, der sich mit Katastrophen beschäftigt, wie schauen Sie in die Zukunft?

Es ist immer genug da, was passieren kann, also muss man sich darauf einstellen. Das ist die pessimistische Antwort.

Und die optimistische?

Die Pandemie in Deutschland hat mich gelehrt, dass es immens viele konstruktive Kräfte hierzulande gibt. Wir alle haben da eine gute Erfahrung gemacht. Aber darauf dürfen wir uns nicht ausruhen.

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