Ausstellung:Im Treibhaus

Für seine Jahresschau"Phänomenal Floral" lässt der Kunstkreis Gräfelfing eine leer stehende Villa zu einem faszinierenden, begehbaren Stillleben werden

Von Annette Jäger

Filigrane Gräser und fragile Wiesenblüten neigen sich die Köpfe zu, als wären sie Lebewesen, die miteinander in Beziehung stehen. In Öl auf weißer Leinwand detailgetreu von Beatrice Adler gemalt, faszinieren sie in ihrer ganzen Perfektion. Wie ein Fries ziehen sich die zarten Blütenbilder durch den Flur und das Treppenhaus im ersten Stock der Villa in der Rudolfstraße 24 in Lochham. Im Kontrast dazu steht die Arbeit der Niederländerin Margriet Smulders im Erdgeschoss: Prächtige bunte Blüten, Blätter und Früchte sind zu einem wilden Stillleben arrangiert. An manchen Stellen in dem großformatigen Bild läuft alles in einem bunten Farbsee zusammen. Der Betrachter kann kein Oben und Unten ausmachen, die Perspektiven wechseln ständig. Die Arbeit wirkt wie ein Gemälde, das an die Tradition der niederländischen Blumenstillleben anknüpft, und doch ist es eine Fotografie.

Blüten, Blätter, Stängel - sie sind in ihrer ganzen Pracht und Schönheit, in ihrer Ästhetik und Vielfalt das Thema der diesjährigen Jahresausstellung des Gräfelfinger Kunstkreises. "Phänomenal Floral" heißt die Schau und - mal wieder - beweisen die Ausstellungsmacherinnen ein Händchen für das richtige Thema zum richtigen Zeitpunkt: Im Jahr der Corona-Pandemie, in dem der Rückzug in die Privatheit ansteht und der Garten als geschützte Oase den Urlaub ersetzt, entführen sie den Besucher in eine leer stehende Villa mit verwildertem Garten und laden ein zum Schwelgen in Blütenpracht. Was genial ausgedacht erscheint, ist auch ein wenig dem Zufall geschuldet. Schon vor zwei Jahren entstand die Idee, eine Ausstellung zu kreieren, "die die Herzen öffnet", sagt Kuratorin Ingrid Gardill. Schnell kamen da Blüten und Natur in den Sinn, die Themen Werden und Vergehen und auch die Verbindung zwischen Mensch und Natur. Bei einem Besuch der "Art Karlsruhe", einer internationalen Kunstmesse, stellte das Kunstkreisteam dann fest, dass es damit voll im Trend liegt.

Ausstellung: Neue Bewohner: Die Pflanzen in all ihren künstlerischen Formen sind eingezogen ins alte Haus an der Gräfelfinger Rudolfstraße. Im Bild die Installation "Morituri" des Münchner Malers und Bildhauers Lothar Götter.

Neue Bewohner: Die Pflanzen in all ihren künstlerischen Formen sind eingezogen ins alte Haus an der Gräfelfinger Rudolfstraße. Im Bild die Installation "Morituri" des Münchner Malers und Bildhauers Lothar Götter.

(Foto: Catherina Hess)

Einen besseren Ort in der Gartenstadt Gräfelfing kann man sich für das Ausstellungsthema fast nicht wünschen. Die leer stehende Villa mit Abrisscharme an der Rudolfstraße, die der Gemeinde gehört und die im Herbst kernsaniert wird, hat selbst die Anmutung eines Gewächses: Farbe blättert von den Wänden und lässt den auf Blumen und Blüten geeichten Betrachter filigrane Blattverästelungen darin entdecken. Die verblichenen Blumentapeten muten wie die Fortsetzung von so manchem gemalten Bild an. Und sieht die Steckdose, die da an Kabeln aus der Wand hängt, nicht aus wie ein Wurzelstück? Vor den Fenstern wiegt sich ein grüner Blätterwald im Wind. Die Natur draußen und die Natur in den Kunstwerken treten plötzlich in sinnliche Beziehung zueinander.

Gibt es etwas Schöneres, als der Neugier freien Lauf zu lassen und in fremden Häusern auf Entdeckungsreise zu gehen? Arbeiten von 27 internationalen Künstlerinnen und Künstlern sind vom Erdgeschoss bis hinauf in den Dachboden zu sehen. Diesmal hat der Kunstkreis auf der Suche nach geeigneten Künstlern mit drei Galerien zusammengearbeitet. Auf diese Weise konnten auch prominente und derzeit sehr gefragte Künstler gewonnen werden. Dazu gehört Margriet Smulders mit ihren Blütenstillleben und auch der Chinese Hong Yi Zhuang, dessen Arbeiten weltweit in zahlreichen Privatsammlung vertreten sind und die schon vielfach in Museen gezeigt wurden. In der Rudolfstraße können Betrachter in seinen faszinierenden farblich changierenden Blütenbildern aus chinesischem Reispapier versinken, "Flowerbeds" nennt er die Blütengebilde. Inspiriert hat ihn der Blick auf die bunten Tulpenfelder bei einem Landeanflug auf Amsterdam.

Ausstellung: "Flowerbeds": Der chinesische Künstler Hong Yi Zhuang verwendet für seine changierenden, lebendig wirkenden Blütenbeete buntes Reispapier.

"Flowerbeds": Der chinesische Künstler Hong Yi Zhuang verwendet für seine changierenden, lebendig wirkenden Blütenbeete buntes Reispapier.

(Foto: Catherina Hess)

Es gibt noch mehr zu entdecken. Da sind die beeindruckenden Baumskulpturen des bosnischen Bildhauers Mirsad Herenda. Zerbrechlich wirken sie und sind doch aus Eisen geschweißt. Es scheint, als zerre der Wind an ihren zarten, nackten Ästen, ihre verschlungenen Wurzelgebilde sind dem Erdboden entrissen. Sie erzählen von Krieg und Zerstörung, wie sie ihr Schöpfer selbst erlebt hat. Heiter wirkt dagegen die Blätterarbeit von Michael Schuster. Er hat im ersten Stock ein kleines "Blätterkabinett" gestaltet, wie Ingrid Gardill es nennt. Aus Laub kreiert er kleine Figuren, für deren Vorlage Schnappschüsse und Momentaufnahmen aus Familienalben dienen. Er lässt sie über die Wände des kleinen Kabinetts laufen, sie bewegen sich scheinbar wild durcheinander und treten in Gruppen zusammen. Faszinierend sind auch die Papierarbeiten von Hannelore Weitbrecht. Aus weißem Papier und Draht kreiert sie wild verschlungene Kunstgewächse. Auf dem Dachboden findet der Besucher die streng geometrischen Formen - Kreis, Quader, Zylinder - aus kleinen verflochtenen Zweigen, zusammengesetzt von Norbert Klaus.

Vom Garten über das Erdgeschoss in den ersten Stock bis auf den Dachboden ist der Besucher eingeladen, sich einzulassen auf Pflanzen in all ihren Facetten: prächtig und einzigartig, geheimnisvoll und ästhetisch, mystisch und faszinierend. Es ist eine sinnlich-ästhetische Schau, die inspiriert und, ja, die Herzen öffnet. Nach langer, coronabedingter Kunstabstinenz - auch den Kunstkreis betraf dies, die Schau musste in den Spätsommer verschoben werden - erscheint Kunst als das, was sie ist: systemrelevant.

Die Ausstellung ist von Samstag, 12. September, an bis Sonntag, 4. Oktober, zu sehen. Geöffnet ist jeweils von Donnerstag bis Sonntag von 16 bis 19 Uhr. Wie immer gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Führungen, Vorträgen und Künstlergesprächen. Weitere Informationen unter www.kunstkreis-graefelfing.de

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