Saisonstart am Burgtheater:Er rast nicht, er regiert nur

Martin Kušej inszeniert in Wien Calderón, Thomas Köck schreibt "Antigone" neu.

Von Wolfgang Kralicek

Als Martin Kušej noch ein zorniger junger Mann war, schlug er die Stücke mit der Axt entzwei. 1992 etwa inszenierte er in Graz Franz Grillparzers märchenhaftes Psychodrama "Der Traum ein Leben", da drosch gleich zu Beginn der Aufführung ein Schauspieler mit dem Beil auf einen Rinderschädel ein, dass Blut spritzte. So wuchtig und bildstark waren damals die meisten Kušej-Inszenierungen. Der Regisseur machte Karriere und wurde in der deutschen Theater-Bundesliga zum erfolgreichsten österreichischen Legionär seit Hans Kresnik (noch so einem Kärntner Bühnenberserker).

Im Lauf der Jahre hat Kušej seine Mittel verfeinert und die Axt durch subtilere Werkzeuge ersetzt. Das ist ein ganz normaler Vorgang, man entwickelt sich weiter und kann ja nicht für immer zorniger junger Mann bleiben. Problematisch wird es allerdings, wenn sich ein Regisseur wie Kušej seiner Mittel allzu sicher wird, dann sehen nämlich auch seine Inszenierungen auf einmal fast so routiniert und konventionell aus wie die, gegen die er einst angetreten war.

Mit Calderóns "Das Leben ein Traum" verweist Kušej auf seine frühen Erfolge zurück

In Calderóns "Das Leben ein Traum" (1635), mit dem Kušej jetzt seine zweite Spielzeit als Direktor des Wiener Burgtheaters eröffnet hat, wird das vor allem deshalb so augenfällig, weil er mit der Stückwahl selbst auf das Drama verweist, dass er einst in Graz inszeniert hatte: Nicht nur im Titel bezog sich Grillparzer in "Der Traum ein Leben" auf das 200 Jahre ältere Werk, auch thematisch sind die Stücke verwandt. In beiden spielt der Gedanke eine wichtige Rolle, dass es sich bei dem, was wir für unser Leben halten, um einen Traum handeln könnte.

Bei Calderón kommt einer jener Menschenversuche hinzu, wie man sie etwa auch aus den Komödien von Marivaux ("Der Streit") kennt: König Basilius, ein leidenschaftlicher Hobby-Astrologe, hat seinen unter einem Unstern geborenen Sohn Sigismund nach der Geburt sicherheitshalber in einen Turm sperren lassen, wo er von der Außenwelt isoliert und von einem Aufseher unterrichtet aufwächst.

Um herauszufinden, ob der dämonisierte Filius vielleicht doch das Zeug zum Kronprinzen hat, lässt der König Sigismund zur Probe frei - was gar nicht gut geht. Der junge Mann ist zwar eloquent und reflektiert wie ein Dichter oder Philosoph, im sozialen Umgang aber ungebildet wie Kaspar Hauser. Was kann der Sigismund dafür, dass er so wild ist? Woher soll er wissen, dass man Dienstboten nicht einfach aus dem Fenster werfen und Frauen nicht ungeniert die Brüste betasten darf? Rasch bricht der König das Experiment ab; um Sigismund aber nicht vollends ins Unglück zu stürzen, wird ihm weisgemacht, er habe alles nur geträumt. Kein Wunder, dass Sigismund Traum und Wirklichkeit nicht mehr voneinander unterscheiden kann, wenn er am Ende, im Zuge eines Aufstands, doch noch an die Macht kommt.

Sechs Tanzstunden in sechs Wochen | Richard Alfieri | Kasino; Das Leben ein Traum Burgtheater

Im sozialen Umgang ungebildet: Franz Pätzold als Sigismund in Kušejs Inszenierung.

(Foto: Andreas Pohlmann)

"Das Leben ein Traum" ist ein barock-katholisches Läuterungsdrama, in dem ein Polit-Psychothriller steckt. Kein ganz leichter Stoff, aber schon spannend. Es braucht halt eine ziemlich klare Vorstellung davon, was man mit dem Stück erzählen und wie man es szenisch umsetzen will. Im Burgtheater wird es bloß Szene für Szene runterinszeniert und humorlos ausbuchstabiert; von einem großen dramaturgischen Bogen kaum eine Spur, von einer szenischen Vision auch nicht.

Die von Annette Murschetz gestaltete Drehbühne zeigt auf der einen Seite einen dunklen Keller, in dem sich eine Kohlenhalde türmt, auf der anderen einen weißen, von zwei schiefen Wänden markierten Raum; zwischen den Szenen raunt und bollert, wie in allen Kušej-Inszenierungen, der Düstersound des Theatermusikers Bert Wrede.

Statt um Schein und Sein soll es um die Machtfrage gehen. Aber ist das nicht immer so im Theater?

Die Schauspieler sind vor allem darauf bedacht, die Calderón-Verse (Übersetzung: Soeren Voima) möglichst klar zur artikulieren; die Rollengestaltung bleibt undeutlich. Selten hat man Roland Koch (als Sigismunds Aufseher/Erzieher) so farblos gesehen wie hier; der von Norman Hacker (der übrigens schon damals beim Grazer Grillparzer dabei war) gespielte König Basilius changiert zwischen Wut-Lear und Kuschel-Pascha; die zuletzt an den Münchner Kammerspielen engagierte Julia Riedler als Sigismunds weibliches Pendant Rosaura wirkt wie ein Fremdkörper. Einzig Franz Pätzold als Sigismund legt die Gebrochenheit seiner Figur - "Jetzt weiß ich, was ich bin: halb Mensch, halb Tier!" - klar und präzise offen.

Die Inszenierung lege ihr Hauptaugenmerk weniger auf das Schein-und-Sein-Motiv des Stücks als auf die Frage der Macht, steht im Programmheft. Aber geht es im Theater nicht ohnedies immer um Machtfragen? Ans Ende des Stücks ist ein Monolog aus dem Pasolini-Drama "Calderón" angehängt, in dem die wie tot auf den Kohlehaufen hingestreckte Rosaura von einem Albtraum berichtet, der ein apokalyptisches Bild einer Menschheit in Agonie zeichnet. Was hat das mit "Das Leben ein Traum" zu tun? Und heißt das, dass das ganze mehr als drei Stunden lange Stück nur ein Traum der Rosaura war? Ganz schlau wird man aus dem Schlussbild nicht. Aber es ist schon deshalb der stärkste Moment des Abends, weil man zumindest ahnt, dass damit etwas gewollt wird.

Wien Antigone

"Antigone. Ein Requiem" von Thomas Köck, inszeniert am Akademietheater von Lars-Ole Walburg.

(Foto: Matthias Horn)

Im kleinen Haus, dem Akademietheater, wurde die Spielzeit anderntags mit Thomas Köcks Sophokles-Überschreibung "Antigone. Ein Requiem" eröffnet. Der vielgespielte österreichische Dramatiker behält die chorische Form der antiken Tragödie bei, transponiert den Konflikt zwischen staatlichem und göttlichem Recht aber in die Gegenwart: Nicht der tote Bruder Polyneikes ist es, den Antigone (Sarah Viktoria Frick) illegalerweise begraben möchte, sondern die Leichen von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer, die es vor Theben an den Strand gespült hat. König Kreon (Markus Scheumann) ist ein moderner Rechtspolitiker, der sich ein "etwas flexibleres politisches System" wünscht und sich von Gesetzen nicht die "Hände binden lassen" möchte. "Das ist verrückt!", protestiert Sohn Haimon. Nein, erwidert Kreon: "Das ist Demokratie, gelebte thebanisch-europäische Praxis."

"Nichts ist ungeheurer als der Mensch", heißt es bei Sophokles. "Wirklich nichts ist ungeheurer als die Toten", wird daraus bei Köck. Wer wollte ihm da widersprechen? Die voriges Jahr in Hannover uraufgeführte "Rekomposition" hat ein paar gute Pointen ("Ich rase nicht, ich regiere nur") und hält sich streng ans jambische Versmaß. Aber verglichen mit den Sprachmassiven, die sich etwa bei Elfriede Jelinek über die Bühne ergießen, ist Köcks Drama nur eine Laubsägearbeit. Und leider ist Regisseur Lars-Ole Walburg nichts anderes dazu eingefallen, als das siebenköpfige Ensemble als Chor auf die leere Bühne zu stellen und den Text aufsagen zu lassen.

Martin Kušej begreift das Burgtheater als Hort des Dramas, postdramatische Formate sind dem Intendanten suspekt. Man versteht schon, was er damit meint. Aber wenn das "richtige" Theater so bieder und ambitionslos daherkommt wie in diesen Eröffnungspremieren, ertappt man sich dann doch bei dem Gedanken, dass da mal wieder einer die Axt rausholen sollte.

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Martin KusÌŒej

SZ PlusSZ MagazinPorträt
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