Medikamenten-Entwicklung:Schnell statt sicher

Medikamente

Es kommt immer wieder vor, dass sich schwere Nebenwirkungen von Medikamenten erst nach der Zulassung zeigen.

(Foto: Hans-Jürgen Wiedl/dpa)

Zeitmangel und Patienten in Not: Die Entwicklung von Medikamenten gerät in der Corona-Pandemie immer stärker unter Druck - und Nebenwirkungen aus dem Blickfeld.

Von Christina Berndt

In Russland werden gerade Freiwillige gesucht, sie sollen sich den Corona-Impfstoff Sputnik V, der nach Tests an nur 76 Menschen eine Registrierung erhalten hat, spritzen lassen. In Großbritannien wurde eine Studie mit einem Impfstoffkandidaten der Universität Oxford zwischenzeitlich gestoppt, weil bei zwei Probanden eine schwere Krankheit aufgetreten war. Und in den USA könnten die Erklärungen von Präsident Donald Trump, es werde bald, wohl noch vor der Präsidentenwahl am 3. November, einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 geben, nichts Gutes für einen seriösen Zulassungsprozess bedeuten. Schließlich war auch schon die Therapie von Covid-19-Patienten mit dem (bei dieser Diagnose inzwischen als zu nebenwirkungsreich eingestuften) Hydroxychloroquin seltsam schnell von der Arzneimittelaufsicht FDA erlaubt worden, nachdem Trump es intensiv beworben hatte.

Die Corona-Pandemie zeigt der Welt gerade, wie wichtig neue Arzneimittel und Impfstoffe für die globale Gesundheit sind. Aber sie zeigt zugleich, wie bedeutend ein sorgfältiger Prüfprozess ist, damit Patienten diese neuen Mittel ohne größere Bedenken einnehmen können. Die Sicherheit von Arzneimitteln ist auch abseits der Pandemie ein hochaktuelles Thema, denn sie wird von verschiedenen Entwicklungen bedroht. Immer wieder müssen Hersteller Medikamente vom Markt nehmen, die sich als doch nicht sicher erwiesen haben, erfährt die Öffentlichkeit von vertuschten Nebenwirkungen oder warnen Behörden vor gefälschten Medikamenten. Das Gesundheitsforum der Süddeutschen Zeitung hat deshalb Experten miteinander ins Gespräch gebracht, um über die Sicherheit von Arzneimitteln zu diskutieren. Einen Tag lang befassten sich die Fachleute von Universitäten, Behörden und Industrie mit den aktuellen Problemen - und skizzierten Lösungsvorschläge.

Ohne ein Restrisiko geht es nicht - das war das Fazit von Klaus Cichutek, dem Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), das für die Zulassung und Überwachung von Impfstoffen und biomedizinischen Arzneimitteln zuständig ist. "Die Zulassung jedes neuen Arzneimittels beruht letztlich auf einer Nutzen-Risiko-Analyse", so Cichutek. "Das heißt: Ein Arzneimittel wird zugelassen, wenn Patienten deutlich davon profitieren und wenn die Risiken im Vergleich akzeptabel sind." Arzneimittel ohne Nebenwirkungen gebe es nicht.

In der Praxis werden Schäden oft lange übersehen

Trotzdem kommen schwerwiegende Ereignisse immer wieder vor. Fünf bis zehn Prozent aller Krankenhausaufenthalte und jede vierte Aufnahme auf der Intensivstation werden auf Arzneimittelnebenwirkungen zurückgeführt, sagte der Pharmakologe Gerd Kullak-Ublick von der Universität Zürich. Etwa jeder zweite Fall gilt als vermeidbar. Besonders häufig ist dabei das Herz betroffen. Kardiale Nebenwirkungen seien die häufigste Ursache für die Marktrücknahme von Arzneimitteln, so Kullak-Ublick. An zweiter Stelle kommen Leberschäden, die auch häufig von pflanzlichen Arzneimitteln verursacht werden. Diese Schäden seien oft immunvermittelt und damit schwer vorhersagbar, warnte Kullak-Ublick. "Umso mehr müssen sich die Beobachtungen darauf konzentrieren." Der Pharmakologe forderte, moderne Techniken zur Überwachung leberschädlicher Nebenwirkungen einzusetzen. So könnten sich entwickelnde Leberschäden anhand von biochemischen Marker-Stoffen im Blut vorhergesagt werden.

Doch in der Praxis werden Schäden oft lange übersehen - wie bei Flupirtin. Das Schmerzmittel wurde 1984 zugelassen und nirgendwo so häufig verschrieben wie in Deutschland. Es kam zu Hunderten Fällen von schweren Leberschäden, mindestens 15 Menschen benötigten eine Transplantation. Bis Konsequenzen folgten, vergingen Jahre. "2018 verlor das Mittel endlich seine Zulassung ", so Kullak-Ublick.

Dass sich selbst schwere Nebenwirkungen erst nach der Zulassung zeigen, kommt immer wieder vor. "Seltene Nebenwirkungen können nicht immer zuverlässig in klinischen Prüfungen entdeckt werden", sagte Kullack-Ublick. Daher sei eine Überwachung auch nach der Zulassung wichtig, diese Überwachung dürfte aber nicht der Ersatz für sorgfältige Studien vor der Zulassung sein.

Eben das sei aber immer häufiger der Fall, gab Daniel Grandt aus dem Vorstand der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft zu bedenken. Er sorgt sich, dass mehr und mehr Medikamente weniger gut geprüft zum Patienten kommen. So werden Studien der Phase 2 und Phase 3 kombiniert statt nacheinander durchgeführt; und beschleunigte Verfahren gibt es ebenso wie Zulassungen als Notfallmedikament. "So dringend neue Medikamente auch sind", sagte Grandt: "Am Ende hat man zum Zeitpunkt der Zulassung zu wenige Probanden behandelt, um Risiken adäquat beurteilen zu können. Das verlagert Risiken auf die Patienten und die Kosten der Entwicklung auf die Versichertengemeinschaft."

Manche Hersteller machten sich dabei die Sonderregeln für Orphan Diseases zunutze - Krankheiten, die als Waisen bezeichnet werden, weil sie wegen ihrer Seltenheit von der Forschung vernachlässigt werden. Mittel gegen diese Leiden, Orphan Drugs, erhalten leichter eine Zulassung. Der Trick der Hersteller: Sie unterteilen verbreitete Leiden in immer mehr Unterkrankheiten, bis diese als selten gelten. "Ein absurd hoher Anteil der Arzneimittel sind heute Orphan Drugs", sagte Grandt. Dazu zählen Mittel gegen hochseltene genetische Krankheiten, aber auch solche gegen Lungenkrebs, die nur manchen Lungenkrebspatienten nützen.

PEI-Präsident Klaus Cichutek verteidigte die Vorgehensweise jedoch. Die Orphanisierung der Medizin hänge auch mit der Präzisionsmedizin zusammen, sagte er. Da zunehmend genetische Besonderheiten von Patienten bekannt würden, ließen sich manche Krankheiten tatsächlich stärker unterteilen: "In solchen Fällen ist das kein Pharmatrick."

Das ganze Spektrum der Nebenwirkungen lässt sich nur während der breiten Anwendung erkennen

Auch der Antikörper Natalizumab, ein hochpotentes Mittel gegen die Multiple Sklerose, war 2004 in den USA nach einer verkürzten Studiendauer zugelassen worden. Er galt als zu vielversprechend, um Patienten länger warten zu lassen. Doch schon drei Monate später wurde die Vermarktung ausgesetzt. Einige Patienten hatten durch die Therapie eine PML entwickelt, eine oft tödlich verlaufende Erkrankung des Zentralnervensystems.

Dennoch hilft der Antikörper heute zahlreichen Patienten mit MS. "Wir haben viel darüber gelernt, wie wir mit diesem Medikament umgehen können", sagte Cichutek. So würden Patienten damit in der Regel nicht länger als zwei Jahre behandelt; engmaschige Untersuchungen durch einen Neurologen sind zudem vorgeschrieben. Patienten können somit trotz der Risiken von Natalizumab profitieren.

Die Experten

Prof. Dr. Klaus Cichutek Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, des Bundesinstituts für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel Prof. Dr. Dr. Gerd Geißlinger Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Klinikum der Universität Frankfurt am Main, Direktor des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie sowie Gesundheitsforschungsbeauftragter der Fraunhofer-Gesellschaft Prof. Dr. Kai Daniel Grandt Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft sowie Chefarzt der Klinik für Innere Medizin am Klinikum Saarbrücken Prof. Dr. Gerd Kullak-Ublick Ordinarius der Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie am Universitätsspital Zürich Prof. Dr. Jochen Maas Geschäftsführer Forschung und Entwicklung bei der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH Moderation: Prof. Dr. Alexander Gerbes, stellvertretender Direktor der Medizinischen Klinik II und Leiter des Leberzentrums am Klinikum der Universität München

Für jedes Arzneimittel gilt: Das ganze Spektrum seiner Nebenwirkungen lässt sich letztlich nur während der breiten Anwendung erkennen - von Ärzten und Patienten. Es nützt der Allgemeinheit aber nur etwas, wenn die Behörden auch von den Nebenwirkungen erfahren, doch Ärzte melden diese viel zu selten. "Immer wenn es Diskussionen über neue Probleme mit einem Arzneimittel gibt, nehmen die Meldungen zu, um dann aber wieder abzunehmen", beklagte Cichutek. Kullak-Ublick machte auf einen neuen möglichen Weg aufmerksam, Nebenwirkungen zu entdecken: die sozialen Medien. Patienten sprechen zwar mitunter nicht einmal mit ihrem Arzt über Nebenwirkungen, aber auf Twitter tauschten sie sich rege darüber aus, sagte der Pharmakologe. Die Auswertung von Twitter & Co. könnte Behörden somit helfen, andere Patienten vor unerwünschten Arzneiwirkungen zu schützen.

Manche Arzneimittelrisiken entstehen nicht durch Versehen, sondern durch betrügerische Absicht

Probleme mit Arzneimitteln ergeben sich allerdings häufig auch dadurch, dass Patienten mehrere Medikamente einnehmen, die einander gegenseitig beeinflussen. "Verordnungsbedingte Fehler sind das größte Risiko für Patienten", sagte Grandt. Bei jedem dritten Patienten, der im Krankenhaus aufgenommen wird, findet sich eine unerwünschte Arzneimittelreaktion. "71 Prozent davon wären vermeidbar gewesen", so Grandt. Fast jeder dritte Patient nimmt sogar Medikamente, die ausdrücklich nicht kombiniert werden dürfen. So habe ein 35-Jähriger wegen einer Bronchitis von seinem Hausarzt ein Antibiotikum bekommen; er nahm aber auch ein Antidepressivum ein, das ihm ein Neurologe verschrieben hatte. Am nächsten Morgen war der junge Mann tot.

Grandt räumte ein, dass die Verschreibung von Medikamenten komplex sei. Jeder vierte Patient nimmt mehr als vier Arzneimittel ein, oft werden diese nicht von einem Arzt, sondern von drei Ärzten verschrieben. Umso wichtiger sei ein digitales Arzneimittelmanagement, so Grandt, das eine Warnmeldung sendet, wenn ein Patient Mittel nehmen soll, die sich nicht vertragen. In der Schweiz gebe es ein solches System bereits, sagte Gerd Kullak-Ublick. Die "beratende Medikationsakte EPha.ch" weise den Arzt sogar auf risikoärmere Alternativen hin.

Doch manche Arzneimittelrisiken entstehen nicht durch Versehen, sondern schlicht durch betrügerische Absicht, etwa durch Fälschungen. Manchen Patienten oder Apothekern fällt auf, dass Tabletten plötzlich orange statt weiß sind, andere Fälschungen bleiben hingegen unbemerkt. Seit Anfang 2019 soll das Securpharm-System den Fälschungsschutz verbessern. Packungen müssen seither so konstruiert sein, dass erkennbar ist, wenn sie geöffnet wurden. Zudem hat jede Arzneimittelpackung in der EU eine individuelle Seriennummer. Klaus Cichutek begrüßte das System grundsätzlich. Doch eine genaue Rückverfolgung der kompletten Lieferwege durch die EU vom Hersteller zum Behandelten sei damit ohne Weiteres nicht möglich, beklagte er. "Hier könnte ich mir Verbesserungen vorstellen."

Schwierig zu erkennen und verfolgen ist es auch, wenn Hersteller ihre Daten schönen, um Medikamente zur Zulassung zu bringen, obwohl diese einen geringen Nutzen oder starke Nebenwirkungen haben. Das aber kommt immer wieder vor - auch wenn Aufsichtsbehörden inzwischen strengere Regeln erlassen haben. Das Schmerzmittel Vioxx etwa, bis zu seiner Marktrücknahme im Jahr 2004 ein Verkaufsschlager, hätte Jahre zuvor aus dem Verkehr gezogen werden müssen, wenn der Hersteller MSD alle Studiendaten frühzeitig offengelegt hätte. So zeigte sich erst spät, dass das Mittel das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle drastisch erhöht.

Jochen Maas von Sanofi-Aventis verteidigte die Pharmaindustrie. Es liege nicht in ihrem Interesse, kurzfristig Gewinne zu machen, sondern langfristig Vertrauen zu schaffen, sagte er. Die Industrie folge einer Richtlinie zur Good Research Practice, die vorschreibt, was für eine gute Forschungspraxis beachtet werden muss. Auch etwa 70 Prozent der Pharma-Studien aus Universitäten könnten unter standardisierten Bedingungen nicht wiederholt werden, betonte Maas. "Da werden Ausreißer ignoriert, es wird selektiv publiziert, Ergebnisse werden mit statistischen Methoden geschönt." Hier seien die Behandlungsleitlinien ein wichtiges Korrektiv, sagte Alexander Gerbes von der Universität München, der das Gespräch moderierte. Deren Autoren könnten mit der kritischen Prüfung veröffentlichter Daten zum sachgerechten Einsatz von Arzneimitteln beitragen.

Wer die sauberste Weste hat? Diese Frage verliert gerade an Bedeutung, denn die Trennung zwischen Industrie, Akademia und Start-ups verschwimmt. Pharmaunternehmen greifen zunehmend auf externe Innovationen zurück, "Open Innovation" nennen sie das. Neuerdings mischen dabei auch Tech-Konzerne wie Facebook und Google mit (Text unten). Das berge gewiss neue Gefahren, sagte Maas. Dennoch war die einhellige Meinung: Die großen Probleme der Medizin lassen sich nur mit gemeinsamer Anstrengung lösen. "Früher war Forschung oft harte Arbeit plus Zufall", sagte Gerd Geißlinger vom Universitätsklinikum Frankfurt, "heute ist es vor allem harte Arbeit kombiniert mit den neuesten Technologien. Ohne Kooperationen geht das kaum noch."

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