Coronavirus:Geringeres Infektionsrisiko für Kinder und Jugendliche

Erster Schultag in Bayern

"Ganz andere Zeitachse": Manche Kinder haben den Großteil ihrer Schulzeit während der Pandemie absolviert.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)
  • Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion ist um fast die Hälfte vermindert
  • Kleinere Kinder unter 14 Jahren haben besonders wenig zu befürchten
  • Kinderärzte raten von Schulschließungen ab und empfehlen, Kinder bei Erkältungssymptomen nicht gleich 14 Tage zu Hause zu lassen

Von Werner Bartens

Kinder sind unberechenbar. Das gilt nicht nur für ihr mitunter originelles Verhalten, sondern in Zeiten der Pandemie auch für ihre Rolle in der Infektionskette. Sind sie Virenschleudern oder doch ein Bollwerk gegen die Seuche? Bleiben sie selbst unbehelligt von Sars-CoV-2, stecken aber Eltern und Großeltern an, weil sie Hygiene und Abstandsregeln nun mal eher unsystematisch befolgen? Da Schließungen von Schulen und Kindergärten weitreichende Folgen haben, kommt der Frage große Bedeutung zu, wie empfänglich sie für Ansteckungen sind und als wie infektiös sie selbst gelten.

Kinderärzte und Epidemiologen aus Großbritannien zeigen im Fachmagazin JAMA Pediatrics, dass Kinder und Jugendliche sich seltener mit dem neuartigen Coronavirus anstecken als Erwachsene. In einer Metaanalyse hat das Team um Russell Viner Daten aus 32 Studien mit mehr als 41 000 Kindern und Jugendlichen sowie fast 270 000 Erwachsenen ausgewertet. Die Ärzte und Gesundheitswissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass Kinder und Jugendliche ein um 44 Prozent geringeres Risiko haben, sich anzustecken. "Offenbar sind sie weniger empfindlich als Erwachsene", schreiben die Autoren. Auch wenn die Forscher betonen, dass sie nicht untersucht haben, wie ansteckend die Kinder selbst sind, lassen sich aus der Analyse Hinweise ableiten, "dass Kinder und Jugendliche eine geringere Rolle in der Verbreitung von Sars-CoV-2 spielen".

Als Kinder, Jugendliche oder Heranwachsende, die mit den Erwachsenen verglichen wurden, galten Teilnehmer, die jünger als 20 Jahre alt waren. Dass sich Kinder weniger leicht ansteckten, war unter den Zehn- bis 14-Jährigen und den noch Jüngeren ausgeprägter als in anderen Altersgruppen. Die 15- bis 19-Jährigen waren ähnlich empfindlich wie Erwachsene. Trotz aller Ungewissheit ist die Datenbasis der Wissenschaftler vergleichsweise solide; in mehr als der Hälfte der Studien sind Kontakte der Infizierten nachvollzogen worden. Wenn kein Kontakt-Tracing stattfand, wurde für die Analyse auf bevölkerungsweite Screenings zurückgegriffen.

"Kinder sind keineswegs ein Brandbeschleuniger für das Infektionsgeschehen"

Die Autoren schränken ein, dass etliche Daten zur Zeit des Lockdowns und der Schulschließungen erhoben wurden, weshalb Begegnungen der Kinder und Jugendlichen außerhalb der Familie seltener waren. Andererseits bestand vermutlich mehr Kontakt zu Geschwistern, Eltern oder anderen Familienangehörigen als sonst, sodass sie sich in diesem Umfeld eher hätten anstecken können.

"Ausbildung und Wohlbefinden der Kinder sollte höchste Priorität für jede Strategie haben, die Gesellschaft wieder zu öffnen", fordern Saul Faust und Alasdair Munro von der University of Southampton in ihrem Kommentar "Children and Young People first". "Man kann nicht sagen, dass Kinder nicht betroffen sind und die Infektion nicht übertragen - so einfach ist es nicht." Aber die Frage von Schulschließungen dürfe nicht zum politischen Spielball werden. Da Kinder nur ein halb so großes Risiko hätten, sich anzustecken, seien "unendliche Schließungen" nicht akzeptabel, auch wenn dies bei dramatisch ansteigenden Infektionszahlen womöglich notwendig sei.

"Kinder sind keineswegs ein Brandbeschleuniger für das Infektionsgeschehen", sagt Reinhard Berner, Chefarzt der Unikinderklinik Dresden, wo bisher kein Kind wegen einer Corona-Infektion stationär behandelt werden musste. "Vieles spricht dafür, dass sich Kinder nicht so leicht anstecken wie Erwachsene." Natürlich müsse das Infektionsgeschehen penibel nachverfolgt werden, betont Berner, aber die bisherigen Daten böten keine Argumente, längere Schließungen von Schulen und Kindergärten zu rechtfertigen.

Auch in der Region Mailand zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen

Der Kinderarzt weiß, dass in Sachsen bislang deutlich weniger Infektionen zu verzeichnen sind als etwa in Bayern - ein Zehntel der Fälle bei einem knappen Drittel an Einwohnern. Doch auch in stärker betroffenen Gegenden zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen. Mitte September hatten Ärzte aus der von Sars-CoV-2 heimgesuchten Region Mailand ebenfalls in JAMA Pediatrics gezeigt, dass weniger Kinder Infektionen durchgemacht hatten. Unter den Patienten, die notfallmäßig in die Klinik aufgenommen werden mussten und nicht aufgrund von Covid-19-Symptomen kamen, ließ sich bei neun Prozent der Erwachsenen, aber nur bei einem Prozent der Kinder Sars-CoV-2 nachweisen.

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"Es wird immer klarer, wie wichtig der Schulbesuch für Kinder ist", sagt Kinderarzt Berner. "Lange Zeit ohne Schule ist eine Katastrophe für Kinder wie für ihre Familien." Für den Herbst sagt der Mediziner voraus, dass es mehr Infektionen geben wird. "Man sollte nicht glauben, jede Infektion verhindern zu können, und das sollte auch nicht das Ziel sein", sagt Berner. "Ein gewisses, wenn auch geringes Restrisiko sollten wir eingehen." Für die demnächst beginnende Husten- und Schnupfensaison hält der Kinderarzt klare Empfehlungen bereit, die für das sächsische Kultusministerium zusammengestellt wurden: Bei leichten Symptomen kann die Einrichtung weiter besucht werden, bei stärkeren Beschwerden wird weiter abgeklärt, nach zweitägiger Beobachtung kann das Kind gegebenenfalls wieder los. "Man kann jetzt nicht jedes Kind, das niest oder hustet, für 14 Tage zu Hause lassen", sagt Berner.

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