Die Patchworker:Eine Vita voller Wechsel

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Vom Handwerker über mehr als ein Dutzend Job-Stationen zum Coach.

Von Christine Demmer

Vernunft ist die Einsicht in die Notwendigkeit. Das lernte Winrich Widera schon als junger Mann. Damals wäre er liebend gerne Pilot geworden. Doch die Lufthansa winkte ab, wegen mangelnder Eignung. Also musste der gelernte Kfz-Mechaniker, der gerade das Abendgymnasium abgeschlossen hatte, umdisponieren. Mit Technik sollte sein Beruf auf jeden Fall etwas zu tun haben, möglichst mit solcher, die Menschen in Bewegung setzt. Und das genau macht der 50-Jährige auch heute noch: Menschen in Bewegung setzen. Aber weder mit Flugzeugen noch mit Autos, sondern mit Worten. Widera arbeitet als Professional Coach.

Winrich Widera (Foto: Foto: SZ)

"Die Zyklen, in denen bestimmte Berufe gefragt sind und Grundlage der Existenz sein können, werden immer kürzer", sagt er. "Man muss sich auf einen Berufsweg als ewiger Lehrling einstellen." Zum Beweis listet er gerne seine wechselvolle Vita auf. Alle Stationen sind darin akribisch aufgeführt, von Punkt 1, dem Lehrling im Blaumann, bis zu Punkt 18, dem Coach im Zweireiher. Würde er sich heute bei einem Unternehmen um eine Festanstellung bewerben, gälte er vermutlich als bunter Vogel und sähe sich erheblichem Erklärungsbedarf gegenüber. Nach dem Abendgymnasium studierte Widera zunächst Maschinenbau. Doch Ende der siebziger Jahre gab es ein massives Überangebot an Ingenieuren. "Die Vernunft gebot mir, nach dem Vordiplom ins Lehramt zu wechseln."

Mit den Fächern Mathematik, Psychologie und Sport passte er seinen Traum ein Stück weit den Zwängen des Broterwerbs an. Er gründete eine Familie, legte das Staatsexamen ab, fand aber dann in den Zeiten der Lehrerschwemme keine Anstellung als Studienrat. Vernunft ist auch, einen Schritt zurück zu gehen, wenn der Weg nach vorn versperrt ist. Also besann er sich auf seine Vorliebe für Automobiles und ging erneut an den Start, diesmal als Trainee bei einem großen deutschen Fahrzeughersteller.

Im Rückblick hellt sich manches auf: "Zwei abgeschlossene Ausbildungen, aber beide Berufe kaum ausgeübt. So hatte ich mir meinen beruflichen Werdegang tatsächlich nicht vorgestellt." Seine Familie wohl auch nicht. "Vor allem meiner Frau haben die Wechsel sehr zu schaffen gemacht", räumt Widera ein. "Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich geduldig auf eine Anstellung als Lehrer warten sollen." Seine Sache war das freilich nicht. "Es gibt keine richtigen oder falschen Entscheidungen, sofern sie unter Berücksichtigung aller wichtigen Aspekte zu Stande kommen", sagt Widera heute in bestem Coaching-Jargon. Er entschied sich für die Bewegung.

Kurve auf Kurve

Wäre es bei den auf das Traineeprogramm folgenden Stationen 6 (Autoverkäufer) und 7 (Verkaufsleiter in der Industrie) geblieben, dann könnte man die beruflichen Wechselschritte Wideras leicht als anfängliche WegfindungsMäander eines jungen Erwachsenen abtun. Stattdessen legte er sich in die nächste Kurve. Gemeinsam mit einem Partner gründete er ein Unternehmen zur Herstellung und zum Vertrieb von Sportgeräten. "Ich hatte die Chance erkannt, meine Erfahrungen und Kompetenzen auf ein ganz anderes berufliches Umfeld übertragen zu können", sagt Widera.

Anfangserfolge motivierten ihn und bestätigten die Entscheidung. Der Umsatz wuchs, die Belegschaft wuchs, doch bei seiner Frau wuchsen Skepsis und Angst. "Diese Firma würde sicherlich heute noch bestehen, wenn nicht eine für mich existenziell bedrohliche Situation entstanden wäre." Der Rheinländer gab die Selbstständigkeit auf und ging - Station 9 - als Vertriebsleiter weltweit in die Industrie. "Dass ich wieder in ein festes Anstellungsverhältnis wechselte, resultierte schlicht aus der Notwendigkeit, finanziell abgesichert zu sein." Seine Frau war erleichtert. Für sie schien der Albtraum freies Unternehmertum vorüber.

Immer offen

Mit Elan und begünstigt durch den Boom der achtziger und neunziger Jahre arbeitete sich der Vollblutverkäufer vom Vertriebsleiter in der Industrie und Geschäftsleiter einer Marketingagentur zum Geschäftsführer im Kfz-Handel empor. Aber immer noch war da jener Hunger nach Bewegung, der sich wie ein leuchtendes Band durch die Zickzack-Biographie des nunmehr Mittvierzigers zieht. Berufsbegleitend ließ er sich zum Coach ausbilden und schrieb sich für ein Fernstudium der Ökonomie ein.

Seine Beratungskompetenz war gefragt, und so folgte er einem Ruf als Coach im Rahmen eines Entwicklungsprojekts für den Kfz-Handel. Als das Projekt nach vier Jahren beendet war, nahm er für zwei Jahre eine Aufgabe in einer Autohandelsgruppe an, die er eine Zeit lang beraten hatte. "Jeder berufliche Wechsel bedeutete für meine Frau Stress und sorgte für nachhaltige Konflikte zwischen uns. Trotz aller intensiver Gespräche gelang es mir nicht, die Ängste aufzufangen." Trennung, Scheidung, beruflicher Neuanfang in Berlin.

Hier arbeitet Widera heute als selbstständiger Coach und trifft häufig auf Menschen, die bei ihrer beruflichen Planung vor ähnlichen Entscheidungen stehen. "Mein Lebens- und Berufsweg ist Ausdruck meiner Offenheit für Neues", sagt er. Und fügt hinzu: "Keinen Beruf kann man heute ein Leben lang ausüben. Diese Sicherheit gibt einem bei der Berufswahl keiner."

© SZ vom 21.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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